Vom Utopismus zur Fabian Gesellschaft (I)
Über die schwierige Geburt einer gerechten Gesellschaftsordnung
Lachen Sie nicht, es gibt schon wieder einen ersten Teil, weil die verdammte Geschichte sich einfach nicht in einen einzigen Artikel pressen lassen will. Dieser Teil wird insbesondere auf die philosophischen Grundlagen und Theoreme blicken, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erdacht wurden und die im weitesten Sinne etwas mit Sozialismus und einer Neuen Gesellschaftsordnung zu tun haben.
Einige Bemerkungen im voraus
Kennen Sie den?
Drei weise Sufis begegnen sich. Fragt der eine:
“Und, was habt ihr in letzter Zeit so gemacht?” Sagt der erste:
“Ich habe die letzten drei Jahre über jede Seite des heiligen Buches sorgfältig nachgedacht.” Der zweite meint:
“Und ich habe 5 Jahre damit verbracht, jeden Satz des heiligen Buches zu studieren”. Woraufhin der dritte sagt:
“Ha, und ich habe zehn Jahre lang damit zugebracht, über jeden einzelnen Buchstaben der heiligen Schrift zu meditieren”.
Ursprünglich wollte ich schlicht und einfach über die Hintergründe der Entstehung der “Fabian Society” schreiben, eine Ende des 19. Jahrhunderts von England ausgehende Bewegung, die den Sozialismus mittels des Marsches durch die Institutionen möglichst gewaltfrei durchsetzen wollte - und immer noch dabei ist, dies zu tun. Weil hier einer der Fäden der Geschichte verläuft, der zu Agenda 2030 sowie dem grünen Windmühlen-Kampf für das Klima führt und auch noch hinter den Rechtfertigungen zugunsten von diktatorischen Maßnahmen in der Corona-Zeit zu verorten ist. Kurz gesagt: Weltregierung, grüne Agenda und eugenische Bestrebungen haben einen gemeinsamen Nenner, und viele der Faktoren, die diesen gemeinsamen Nenner bilden, finden sich im 19. Jahrhundert.
Es stellte sich heraus, dass ich mir mit so einem Thema ein weiteres Mal anscheinend mehr vorgenommen hatte, als ich realistischer Weise verarbeiten und vernünftigerweise Lesern zumuten kann - es sei denn ich würde ein sehr dickes Buch schreiben, in dem ich die komplette Vorgeschichte (seit Kain und Abel oder sogar noch vorher) und viele Aspekte, die zur Entstehung und Weiterentwicklung dieser Bewegung beitrugen, angemessen detailliert beschreiben könnte. Warum ich mich dennoch immer wieder in das Thema verbissen habe, hat folgenden Grund:
Einige der vorangegangenen Artikel hier auf substack befassten sich mit Personen wie Walther Lippmann, Präsident Woodrow Wilson und z.B. “Colonel” Edward Mandel House, bzw, dessen Familiengeschichte. Mit nicht geringem Erstaunen stellte ich nun fest, dass alle drei, wenigstens in weiterem Sinne, “Fabianisten” waren.
Zur Erinnerung: Insbesondere House war ein enger, vielleicht sogar der engste Berater von Woodrow Wilson, und auch Walter Lippmann (“Die Öffentliche Meinung”, 1922) wurde in den engeren Beraterkreis des Präsidenten aufgenommen.
House war das Bindeglied zwischen Wilson und der - vereinfacht ausgedrückt - Morgan-Bankengruppe, die 1913 den Federal Reserve Act in den USA durchdrückte. Dieses Kartell verdiente gut am europäischen Krieg, kontrollierte schon vor 1917 einen gewichtigen Teil der amerikanischen Presse, spielte aber andererseits mit sehr hohem Einsatz (s. a. 1914 - 1963). So hoch, dass es 1917 zwingend erforderlich wurde, die USA in den Krieg hineinzuziehen, falls dies nicht schon seit längerem gewünscht war.
Interessant in diesem Zusammenhang sind die Untersuchungen von Normann Dodd in den 50er-Jahren, der gar Erstaunliches über gewisse Erkenntnisse der “Carnegie Foundation for International Peace” aus dem Jahr 1908 herausfand: dass nämlich nur ein Krieg dazu geeignet wäre, die Gewohnheiten eines Volkes dramatisch zu verändern, was die Carnegie Foundation offenbar wünschenswert fand.
Carnegie war einer jener sogenannten Gutmenschen, auch Philanthrop genannt, der ab den 1890er Jahren eine Unmenge Stiftungen gründete, allesamt mit dem Ziel, den Zugang zu Bildung (education) für das Volk zu verbessern, aber auch die sozialen Verhältnisse unter der Arbeiterschaft anzuheben. Z.B. durch einige Wohnbauprojekte in England, in der Regel aber durch die Gründung von Bibliotheken und wissenschaftliche Institutionen.
Nun kann man sich als Armer von einer Bibliothek zwar nichts zu essen kaufen, doch immerhin könnten durch diese Art von Philanthropie auch etliche Menschen, die sich kein Buch kaufen konnten, in den Genuss von Bildung kommen. Ursprünglich neigte ich zu der nicht unbegründeten Spekulation, die geballte Bildungsinitiative hätte etwas mit der industriellen und technischen Entwicklung zu tun, und das ist sicherlich kein ganz falscher Gedanke. Das Wissen, das von den zahlreichen Bibelschulen vermittelt wurde, ist wahrscheinlich nicht zu gebrauchen, wenn es um die Berechnung des Dampfdrucks eines Kessels oder den Bau einer Ölforderanlage ging.
Es gab aber einen anderen Haken an der Sache. Denn Carnegies so gut gemeinten Stiftungen fielen nach und nach in die Hände von J.P. Morgan, Rockefeller & Co. 1902 stiftete Andrew Carnegie übrigens das Carnegie Institute, welches unter anderem „the Eugenics Record Office in America“ mitbegründete. Carnegies Hauptinteressen liegen im Bereich „Bildung“, was aber offenbar ein tieferes Interesse an Eugenik nicht ausschloss. Eine weitere Carnegie-Stiftung war die Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching.
Seit Bestehen dieser Stiftung und ihrer Unterorganisationen wurden für über 750'000 Lehrer, Assistenten und Professoren an 3'600 Bildungsanstalten insgesamt 31 Milliarden Dollars an Unterstützungsbeiträgen gewährt. Auf diesen Teil der Geschichte kommen wir ausführlich in einem anderen Teil zurück.
Bemerkenswert ist, dass auch ein anderer immens reicher Industrieller, John D. Rockefeller I., zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit begann, in Bildung und natürlich das Gesundheitswesen zu investieren, und ebenfalls (noch vor der Einführung des Federal Reserve Bank Acts) eine in diesem Sinne tätige, vorgeblich wohltätige Stiftung gründete - die Rockefeller Stiftung.
Eine der Fragen, die ich mir beim Studium dieser Entwicklung (der aktiven Einflussnahme auf das Gesellschaftswesen über philanthropische Unternehmungen reicher Industrieller) stellte, war nicht wieso Rockefeller etwa in Gesundheit und Bildung investierte, und dort, etwa bei der Finanzierung von Universitäten, schon früh immensen Einfluss gewann, sondern warum Rockefeller I., und mindestens einer seiner Söhne ausgerechnet John Dewey und ähnliche progressiv-sozialistische Gestalten förderten. John Dewey nun war - Überraschung! - ein in die Wolle gewaschener Fabianist, der Präsident etlicher einflussreicher Bildungsinstitutionen und z.B. von der Carnegie Foundation for the Advancement of Science hoch gepriesen wurde! Der Marsch der Fabians durch die Bildungsinstitutionen wurde offensichtlich von diversen Millionären freigiebig unterstützt.
Es muss an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt werden, dass nicht grundsätzlich behauptet wird, die progressiven Lehrinhalte und -methoden wären subversiv oder kontraproduktiv gewesen, sondern dass zunächst lediglich der Einfluss der Fabian Society auf die Bildungsinstitutionen in England und den USA konstatiert wird.
Der rote Faden
Beginnen Sie ein Muster zu erkennen? Obgleich der Begriff “Fabianismus” bzw. die “Fabian Society” heute so unbekannt ist, ging von dieser Bewegung eine gewaltige Sogwirkung aus, die sich von England in die USA und den Commonwealth ausbreitete und von dort aus in die übrigen Kolonien und “Entwicklungsländer”.
House, Wilson, Lippmann, Rockefeller (und noch viele andere wichtige Akteure) waren dem Sozialismus in Gestalt des Fabianismus zugetan, und arbeiteten aktiv auf die Verwirklichung der Ziele der “Fabian Society” hin. Was einige offenbar nicht daran hinderte, Profit aus der guten Sache zu schlagen.
Hier nun, wenn Sie mir noch folgen können, wird ersichtlich, wieso ich ursprünglich über den Untertitel “Wurde der Fabianismus gehijacked?” nachdachte, den ich mir nun wohl für anderen Artikel aufhebe. Denn es stellte sich mir wiederholt die eine Frage: Wieso haben einige superreiche Kapitalisten politische Theorien wie Sozialismus und Fabianismus gefördert, später sogar Kommunismus und Stalinismus in der Sowjetunion aktiv unterstützt?
Eine Antwort auf diese Frage ist, dass Menschen wie Rockefeller eindeutig etwas anderes im Sinn haben, wenn sie den Staats-Sozialismus fördern als Menschen, die sich ernsthaft mit der Bildung einer gerechteren Gesellschaftsordnung befassen und befasst haben. Oder anders ausgedrückt: Großkapitalisten wissen, dass mehr Sozialismus zur Erhöhung der Staatsausgaben führt, und somit unweigerlich eine wachsenden Abhängigkeit von Banken, eine Verstrickung in das Schuldgeldsystem sowie mehr Bürokratie zur Folge hat. Faktoren also, von denen diejenigen, die bereits die Kontrollmechanismen bestimmen und noch mehr Kontrolle und Macht erstreben, profitieren können. Es gibt aber noch einen weiteren Grund für das Interesse der Mächtigen am Sozialismus. Denn jedes Ausbeutungssystem benötigt eine Ideologie, mit der die Menschen dazu gebracht werden sollen, gewissermaßen freiwillig zu akzeptieren, dass sie ausgebeutet werden, und davon abgelenkt werden sollen, dass es auch Profiteure gibt. Ein alter russischer Witz lautet:
Im Kapitalismus werden Menschen durch Menschen ausgebeutet. Im Kommunismus ist es umgekehrt.
Interessant ist, dass die Erfinder des Kommunismus, zumindest aber des Marxismus, Marx und Engels, keineswegs typische Vertreter der Arbeiterschicht waren, genauso wenig wie die Initiatoren der “Fabian Society”. Das bedeutet allerdings erst einmal nur, dass ein gewisser Grad von Bildung sowie ein Mindestmaß an persönlicher Unabhängigkeit notwendig sind, um sich überhaupt kritisch, gleichsam außenstehend mit einem bestehenden System auseinandersetzen zu können.
Die aktivsten frühen Vertreter des Sozialismus stammten, jedenfalls was England betrifft, aber das gilt auch für Deutschland, Frankreich und andere Staaten, aus der gebildeten Mittelschicht gelegentlich auch aus etwas wohlhabenderen oder gar adligen Kreisen. Ähnliches gilt auch für die französische Revolution oder die Revolution in Russland (die von einer Intellegentsia angeführt wurde) oder die Bestrebungen hin zum Sozialismus in den USA. Erinnern wir uns: Woodrow Wilson war vor seiner politischen Karriere Universitätsprofessor.
Die Recherchen über Wilsons Berater, den undurchsichtigen “Colonel” House, offenbarten, dass House, der sich nun als “Fabianist” entpuppt, während der gesamten Zeit des 1. Weltkriegs, auch schon bevor die USA durch Wilson in diesen hineingeführt wurden, eine wichtige Rolle bei Verhandlungen und Gesprächen mit den zukünftigen Alliierten innehatte, Gründungsmitglied von “Inquiry” ( ein Vorläufer des CFR) war, und nicht zuletzt die schmählichen Verhandlungen in Versailles beeinflusste.
Walther Lippmann hingegen, ein anderer geschätzter Berater Wilsons und wahrscheinlich “Fabianist”, war diesem so nahe, dass er 1917 Vorschläge zu einer staatlichen Propaganda-Offensive machen durfte, die letztlich zu den Aktionen der “Creel-Commission” führten - um die Bürger der USA gleichzuschalten und für den Krieg im fernen Europa zu begeistern. Auch Lippmann gehörte wohl von Anfang “The Inquiry” und dem Council on Foreign Relations (CFR) an.
Weil diese Zusammenhänge zwischen sozialistischen Gesellschaftsmodellen und der Förderung dieser Modelle durch Großkapitalisten nicht einfach zu verstehen sind, war es nun wohl wieder einmal an der Zeit, die Sache systematischer anzugehen, was sich leider etwas philosophisch und langwierig gestaltet. Doch hatte ich nun einmal beschlossen, diesen Teil der Geschichte ein für alle Mal abzuhaken. Als Belohnung für die Mühe gibt es ein paar Parallelen zur Gegenwart.
Ist Sozialismus das beste Gesellschaftsmodell?
Sie haben noch nie den Begriff “Fabianismus” vernommen? Dann werden Sie auch nicht ahnen können, dass es möglich ist, auch ohne Realität oder Fakten unbotmäßig zurechtbiegen zu müssen, eine gerade Linie von einer kleinen Truppe, die sich in den 1880er-Jahren in England gründete und die sich zweifellos für eine Elite-Gruppe von “Gutmenschen” hielt, zu höchst aktuellen Tendenzen nationaler und internationaler Politik zu ziehen. Oder zu unserem Sozial-/ bzw. Gesellschaftssystem. Zu Themen wie die drohende UN-Weltregierung mitsamt geplanten und schon weit vorangeschrittenen Projekten wie: digitale ID, digitale Währung, Klimaregulierungen, CO²-Steuer, Sustainable Development, Agenda 2030, Gesundheitsdiktatur und Pseudo-Wissenschaft mitsamt Experten, Schlagworten wie Diversity, Equitiy, Inclusion (DEI) und Programmen wie Environment, Social, Government (ESG), eingeschränkte Meinungsfreiheit, drohende Kriegsszenarien und aktuelle “Krisenherde”, Finanzsystem, internationale mächtige Organisationen und Philanthropen, die nur das Beste für die Menschheit bzw. natürlich die Erde wollen, und vieles mehr.
Wie kann das sein? Nun, Papier ist geduldig, und Verbindungen lassen sich auch zwischen den Maßen eines modernen Rennrades und dem Kosmos herstellen, wenn man dieses möchte. Deswegen befasst sich dieser Teil mit der Geschichte der Suche nach einer gerechten Gesellschaftsordnung und Fragen, welche geradezu zeitlos und hochaktuell sind: Wie kann eine Gesellschaft am besten für alle organisiert werden, ohne zu Lasten eines Teiles dieser Gesellschaft zu gehen? Ist so eine Gesellschaftsform überhaupt möglich oder ist die Idee nur ein Wunschkonzert?
Falls Sie sich noch nie Gedanken über so ein abstraktes Thema gemacht haben sollten, seien Sie beruhigt. Sehr viele Menschen haben sich vor Ihnen den Kopf über eine ideale Gesellschaftsform zerbrochen und praktisch alle scheiterten irgendwie an der doch sehr komplexen Realität menschlicher Gesellschaften. Die sich zudem ständig zu verändern scheint.
Doch nun endlich, im 21. Jahrhundert, haben die ganz Großen und Klugen, jedenfalls diejenigen mit dem dicken fetten Geldbeutel, sich ordentlich organisiert, ihre kleinlichen Streitigkeiten beiseite gelegt, und machen sich mit Feuereifer daran, die Welt zu einem besseren, gerechteren, sustainable Ort zu machen. Und Alles wird gut?
Zwar müssen wir zunächst noch durch ein Tal der Tränen gehen, aber die glänzende gerechte und sustainable Zukunft rechtfertigt jedes Opfer. Damit unsere Kinder oder Enkel, ähem, ich meine natürlich WIR, die Elite, in einer digital hell strahlenden, KI-gesteuerten Zukunft endlich unsere wohlverdiente Freizeit genießen können. 2-300 Millionen Sklaven sollten für diesen Zweck eigentlich ausreichend sein.
Was das mit diesem “Fabianismus” zu tun hat?
Was ist Fabianismus?
Wenn Sie ein britischer Universitätsprofessor wären und Sie hätten nichts anderes im Sinne, als den allgemeinen Zustand in der Welt verbessern - ja gar eine “neue Welt” zu erschaffen - und alle aktuellen sowie noch zu erwartenden Probleme lösen zu wollen - und Sie wären in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hineingeboren worden: Welche Hoffnungen und Erwartungen würden Sie wohl in Bezug auf ein zukünftiges politisches System bewegen und wie würden Sie es ausgestalten wollen?
Zur damaligen Zeit hoch im Kurs standen “Ismen” wie Marxismus, Sozialismus, Anarchismus, elitärer Kapitalismus, Liberalismus, Konservatismus, Malthusianismus, (Sozial)-Darwinismus und mit letzterem eng verwandte eugenische Konzepte.
Fabianismus kann, kurz gesagt, gleich gesetzt werden mit Sozialismus. Der Begriff Sozialismus war zur damaligen Zeit aber eigentlich einfach nur ein anderes Wort für Kommunismus, allerdings ohne blutige Revolution. Nur - wie genau definiert sich eigentlich “Sozialismus”?
Ein kurzer Blick in die Suchmaschine ergab in etwa das Folgende: Sozialismus hat das Ziel eine Gesellschaftsordnung zu erschaffen, in der Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit zwischen allen Menschen gewährleistet sind. [Link] Diese Ideen kamen natürlich im Zeitalter der Aufklärung auf, im 18. Jahrhundert also, wobei sich zwei der Schlagwörter des Sozialismus im Schlachtruf der Französischen Revolution wiederfinden lassen. Das Motto lautete damals: “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit”. Es fällt auf, dass “Brüderlichkeit” durchaus mit “Solidarität” gleichgesetzt werden kann, dass aber die “Freiheit” bei den Sozialisten der “Gerechtigkeit” weichen musste.
Allein das ist schon interessant.
Die französische Revolution und die Gleichheit
Der Begriff “Gleichheit” kommt also sowohl in der Definition von Sozialismus als auch im Motto der Französischen Revolution vor und verfolgt uns modern als equity (wie in Diversity, Equity, Inclusion - DEI). Doch was bedeutete Gleichheit damals und was bedeutet der Begriff heute?
Gleichheit bedeutete bis ungefähr zu Zeiten der Revolution anno 1789 vor allen Dingen eins: Gleichheit vor dem Gesetz. Und dass König und Adel nicht einfach neue Gesetze und Steuern erlassen können sollten, an die sie dann nicht einmal selbst gebunden waren. Den Anstoß für die Tumulte, die zur Revolution führen würden, war die Einführung einer Brot- oder Mehlsteuer, sowie die sowieso verhasste Salzsteuer, was ein wenig an den gerade stattfindenden Aufstand der Bauern in Deutschland erinnert, allerdings nur in weitestem Sinne.
Anders als heute (bei der sogenannte Vierten Industriellen Revolution) ging es damals um die Abschaffung von Privilegien der Oberklasse, womit wenigstens theoretisch die Gleichheit vor dem Gesetz hergestellt werden sollte.
Denken wir einmal kurz darüber nach, stellen wir wahrscheinlich fest, dass heutzutage im “Freien Westen” zwar offiziell keine Klassengesellschaft mehr existiert, inoffiziell eine Klasse von Mega-Reichen aber offensichtlich die Fäden hinter den Kulissen in der Hand hält. Anders als zur Zeit der Revolution ist nun nicht mehr die Rede davon, irgendjemanden aus dieser Klasse der Mega-Reichen zu enteignen, weil diese Personen aufgrund des immensen Reichtums und anderen, verborgeneren Mechanismen unbotmäßigen Einfluss auf die Öffentliche Meinung sowie Wirtschaft und Politik nehmen, also Privilegien besitzen, sondern es werden heutzutage fast alle enteignet, die nicht zu einem kleinen Prozent der Gesellschaft gehören, das offenbar ständig reicher wird. Gleichheit sieht anders aus, möchte ich meinen.
Wie konnte es zu dieser Verwirrung der Begrifflichkeiten kommen und wie zu der Entwicklung, in der wir Kleinen zwar alle gleich gemacht werden sollen, alleine die Großen aber das Sagen haben, wenn es darum geht, was gut ist und wohin unsere Gesellschaft steuern soll?
Ein Schritt in diese Richtung (Gleichheit vor dem Gesetz durch Abschaffung der Adelsprivilegien) war folgerichtig die Enteignung von Großgrundbesitzern und der Kirche, deren Besitz nun in das Eigentum des “Volkes” übergehen sollte. Gesetze sollten von einer Nationalversammlung beschlossen werden, ebenfalls natürlich “im Namen des Volkes”. In der Praxis entstand nach einer fürchterlichen und blutigen Übergangszeit so etwas wie eine Diktatur des Volkes, an deren Spitze wiederum nur einige wenige Auserwählte standen, die die Macht an sich gerissen hatten. Es war ein innerer Kreis von Auserwählten, die - ganz wie die EU-Kommission und andere internationale Organisationen mitsamt NGOs und Milliardären heutzutage - fortan (einige Jahre lang) bestimmten, wie die Gesellschaft gestaltet werden sollte, um Utopia endlich Wirklichkeit werden zu lassen.
Womit das Thema Gleichheit (letztendlich auch vor dem Gesetz) schon vom Start weg Schlagseite bekam und durch eine Art nationale Gleichschaltung ersetzt wurde, während die Gerechtigkeit unter die Räder einer Rachejustiz geriet. Mit der Freiheit war es dann wegen einer Art innerer Gleichschaltung auch nicht mehr weit her, weil die Errungenschaften der Revolution schon bald gegen die an Frankreich angrenzenden Mächte verteidigt werden mussten. Die freien Franzosen wurden in die Armee eingezogen, um ihre angebliche Freiheit mit Blut zu verteidigen.
Festzuhalten bleibt zunächst, dass der Begriff “Gleichheit” ohne eigene Bedeutung ist, wenn er nicht in einen Kontext gesetzt wird. Gleichheit bedeutete zur Zeit der französischen Revolution, jedenfalls für die Masse des Volkes: Gleichheit vor dem Gesetz.
Demokratie vs. Gleichheit
Das Versprechen von Gleichheit, egal in welchem Kontext, ist in der gesamten bekannten Geschichte der Menschheit ein relativ neues Phänomen, sieht man einmal von der sehr alten Vorstellung ab, dass möglicherweise vor Gott, den Göttern oder im Tod alle gleich seien. Bei der Betrachtung angeblicher Gräber der alten Pharaonen oder anderer Könige wird andererseits schnell klar, dass nicht einmal diese Aussage zu halten ist. In Horden, Stammesgesellschaften oder den ersten Stadtstaaten jedenfalls wusste man noch nichts von Gleichheit, allenfalls von Gerechtigkeit, und es war sozialgeschichtlich gesehen schon ein Riesenfortschritt, wenn in einem der frühen Staatengebilde tatsächlich Gesetze gab, die für fast alle galten, mit Ausnahme natürlich des Königs, Stammeshäuptlings, der Adeligen etc.
Dann - die sagenhaften Griechen, die etwas erfanden, das sie Demokratie nannten. Waren dort alle gleich? Nein, natürlich nicht. Plato träumte in seiner Politeia zwar vom Staaten, und wie dieser am besten geführt werden könnte, und einige Menschen waren innerhalb einer Polis sicherlich gleichgestellt, doch galt die Gleichheit nicht für alle Menschen innerhalb des Stadtstaates und schon gar nicht für die Barbaren, jenseits der Stadtmauern. Die Griechen waren die Besten, und damit waren natürlich nur die Oberen und Freien gemeint. Aristoteles war z.B. der Meinung, dass ein Sklave schlichtweg zum Sklaven geboren sei, und damit Basta. Auch auf abgelegenen Inseln, die von sogenannten Kulturvölkern bewohnt waren oder sind, kann von Gleichheit eher nicht die Rede sein. Allenfalls in einigen Klostergemeinschaften kam man dem Ideal der Gleichheit innerhalb einer Gemeinschaft nahe. Aber - Überraschung! - auch beim Militär ist das Ideal der Gleichheit weitgehend verwirklicht, denn innerhalb der Ränge sind alle Soldaten gleichgestellt und auch den Vorgesetzten sind die Soldaten gleich, nämlich Kanonenfutter (das war jetzt schwer sarkastisch gemeint).
Einige Autoren sind der Meinung, dass die frühen Christen, oder wenigstens Jesus und seine Jünger, eine frühe Form des Kommunismus oder Sozialismus praktizierten. Dass sie alles teilten, und keiner über einem anderen stand. Nun, mit Ausnahme des Jesus natürlich, schließlich muss einer ja Anweisungen geben und den anderen erzählen, was richtig und gut ist. Ist also Kommunismus, wenn ein paar ganz oben stehen, und alle anderen gleich wenig zu sagen haben?
Oberschicht, Privilegien und die Ungleichheit vor dem Recht
In der Zeit der Reformation sind die Ursprünge einer Bewegung zu finden, die als Rosenkreuzer bekannt wurde, die einige Schriftsteller beeinflusste, welche ansatzweise die Idee der Gleichheit transportierten und an neuen, utopischen Gesellschaftsformen zu basteln begannen. Schon vorher, Ende des 14. Jahrhunderts in Florenz, entstand eine kurzlebige Bewegung, in der die Armen Mitspracherecht hatten. Die Ciompi war die Partei der Niedriglöhner. Eine neue Regierung wurde aufgrund des Drucks der Straße wirklich gebildet, in der die Ciompi auch tatsächlich Mitspracherecht hatten. Diese Episode dauerte nur wenige Jahre und verschwand wieder im Abfluss der Geschichte.
Ca. 1381, als Bauern und der niedere Adel in England den Aufstand probten, machte der Spruch des Priesters John Ball die Runde: “Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?” Womit auf den Umstand hingewiesen werden sollte, dass weder Adel noch adelige Privilegien irgendwo in der Bibel Erwähnung finden, also menschengemacht sind, und keineswegs irgendwie von Gott gewollt.
John Ball drückte die Meinung aus, dass alle Menschen von Natur aus gleich geschaffen seien, und dass Gott die Leibeigenschaft sicher nicht gewollt hat, sonst hätte er diese gleich bei der Schöpfung vorgegeben. Ein Zeitgenosse von Ball, der Dichter John Gower (1330 - 1408) schrieb, die Aufständischen stellten die närrische Forderung auf, es solle keine Herren mehr geben, sondern nur noch Könige und Bauern. Es wurde also durchaus anerkannt, dass es einen König geben müsse, einen wohlgemerkt und auch noch einen guten, und die hauptsächliche Unzufriedenheit richtete sich somit gegen Knechtschaft, Leibeigenschaft und Privilegien der Adelsklasse.
Seit dem Mittelalter oder dem Ende des römischen Reiches hatte sich in ganz Europa eine Klasse herausgebildet, die früher als Raubritter bezeichnet wurden, woraus allmählich der sogenannte Adel entstand. Das System wurde auch Feudalismus genannt, und beruhte auf dem Lehensystem. Nach und nach wurde das alte Gemeinrecht durch eine schier unübersichtliche Anzahl an Adelsprivilegien ersetzt. Zum Gemeinrecht gehörte z.B. Wiesen, Wälder und Gewässer zur Jagd, zur Holzernte und zum Fischen zu nutzen; diese Rechte wurde ersetzt durch Adelsprivilegien und erweitert durch das Anrecht des Adels, Fronarbeit und Wehrdienst einzufordern; alle Arten von Abgaben, Zölle und Steuern zu erheben, sowie das gesamte Abhängigkeitsverhältnis der Leibeigenschaft. Genau dieselben Vorrechte beanspruchte wie selbstverständlich auch die Kirche, deren obere Ränge (Bischöfe, Kardinäle, Päpste, etc.) nur allzu oft aus den selben adligen Kreisen stammten und sich dieselben Rechte anmaßten.
Bedenkt man, dass in Russland die Leibeigenschaft erst 1861 oder 1863 abgeschafft wurde, und dass das Feudalsystem in Frankreich unter dem Sonnenkönig Louis XIV. Mitte des 17. Jahrhunderts quasi seinen Höhepunkt erreichte, wird abermals deutlich, warum im Zentrum der Forderungen der Unterdrückten die längste Zeit nicht “Gleichheit” im allgemeinen Sinne stand, sondern die Abschaffung der erwähnten adligen Privilegien, welche sich ganz konkret z.B. in der Leibeigenschaft äußerten.
Die bestehenden feudalen Formen manifestierten sich gewiss in einem System der Ungleichheit, was schrittweise durch das frühkapitalistische System (der Ungleichheit) abgelöst wurde. Kommen wir nun zu einer relativ neuen Literaturgattung , die beim Entwicklungsprozess hin zu den Ideen von Kommunismus und Sozialismus einige Vorarbeit leistete: die Utopie.
In diesem Zusammenhang scheint noch eine Klarstellung notwendig zu sein. Zuvor hatte ich behauptet, dass die Idee der Gleichheit der Menschen sich bis zur Französischen Revolution, jedenfalls was die einfachen Leute anbelangte, auf die Gleichheit vor dem Gesetz bezog, was in einem weiteren gedanklichen Schritt zur Forderung der Abschaffung von Privilegien führte. Nun muss ich das ein wenig präzisieren. Dass alle Menschen gleich vor Gott waren, diese Idee hatte sich schon länger in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt, was zum Begriff des “Naturrechts” führte. Was Privilegien angeht, so bestand vor der industriellen Revolution - neben anderen erwähnten Vorrechten wie die Erhebung von Steuern, Zöllen, Fronarbeit etc. - in einer überwiegend agrarisch geprägten Gesellschaft die größte Ungleichheit im Landbesitz, weshalb dieser Aspekt bereits früh in den Fokus von Gesellschaftskritikern geriet. Die Bauern waren auch deshalb stets in einer prekären Lage, weil ihnen der Boden, den sie bebauten, nicht selbst gehörte. Etwas anderes ist jedoch, wenn es um die Vorstellung geht, alle Menschen wären gleich im Sinne von austauschbar und jeder könne die Arbeit von irgend jemand anderem machen. Oder alle Menschen müssten als Teil einer Maschinerie zu funktionieren haben, die von einer Art Zentralkomitee gesteuert wird. Genau diese Vorstellung wurde aber von vielen Utopisten vorangetrieben, was zu gewissen Mängeln ihrer Utopien führt, die nachfolgend beschrieben werden sollen.
Das Problem mit dem Schlagwort “Gleichheit” ist, dass es schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Geschichte zu einer machtvollen Stereotype wurde, unter der jeder etwas anderes verstehen konnte und wollte, und die mit Bedeutungen angefüllt wurde, die in Zeiten der Agrargesellschaft nicht die gleichen sein mussten, wie in späteren hoch spezialisierten Gesellschaften.
Thomas Morus (1478 - 1535, Jurist, Richter) und weitere Utopier
Wenn doch die Idee von Gleichheit bislang auf die Stellung vor Gott und die Abschaffung von adeligen Privilegien gerichtet war, und allenfalls in einigen abgelegenen - Inseln im Meer der Ungleichheit - kleinen Gesellschaftsstrukturen wie Klöstern existierte, wie kam es dann eigentlich dazu, dass eine viel weiter ausgelegte Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen zu Zeiten der Aufklärung zunehmend an Popularität gewann, was schließlich zur Französischen Revolution führte und zum Motto: “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit”? Nun, es scheint sich im Lauf der Zeit die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass die Abschaffung von Sonderprivilegien allein die Ursache der Missstände nicht beseitigen konnte, sondern dass darüber hinaus auch eine sozio-ökonomische Gleichheit erstrebenswert war. Wenn alle gleich viel hatten, dann gäbe es in einer perfekten Welt auch keinen Grund für Neid, Gier und Hader, was allgemein als großes Übel unter den christlichen Denkern und Philosophen angesehen wurde.
Ob Luther anno 1517 seine 95 Thesen wirklich an die Kirchentür nagelte, ist seltsamerweise umstritten. Sicher ist, dass er nicht generell die Autorität der Kirche in Rom und des Papstes angriff, sondern im Gegenteil wieder zu einer reinen, von Gier und Laster unbefleckten Kirche zurückkehren wollte. Im selben Jahr, 1517, wurde der Roman “Die Insel Utopia” vom jugendlichen englischen Humanisten Thomas Morus veröffentlicht, ein fiktiver Reisebericht in lateinischer Sprache. Morus hatte damit eine neue Literaturgattung geschaffen und den neuzeitlichen Begriff “Utopie” geprägt. (1, S. 121)
Thomas Morus, 1527
In Utopia ist, um die Erklärung abzukürzen, alles hübsch ordentlich, ruhig und folgt gesetzten Bahnen. Frauen gehorchen den Männern, Kinder den Älteren. Es gibt viele und gesunde Kinder. Alle leben und essen sie mit ihren Nachbarn und tauschen regelmäßig ihre Wohnungen, ebenso Kleidung und Gebrauchsgegenstände. Ehepartner werden nach Physis und Charakter füreinander ausgesucht, auf Ehebruch wie auch auf andere Verbrechen steht Zwangsarbeit und unter Umständen sogar die Todesstrafe.
Alle Utopier sind zur Arbeit verpflichtet, die Landwirtschaft genießt Vorrang. Weil alle mithelfen ist die Arbeit aber auch schnell gemacht und dauert nur ein paar Stunden pro Tag. Für besonders schwere oder unangenehme Arbeiten gibt es - Sklaven. Ansonsten ist die ganze Insel praktisch eine große Familie. Nun, ich kann mich erinnern: ich hatte in jungen Jahren auch einige träumerische Vorstellungen, die ich niederschrieb. Ziemlich scharfsinnig andererseits beklagt Morus die Gier nach Gold und Land, welche die Gesellschaft zerreiße - bis am Ende “alle Staaten, welche heutzutage in Blüte stehen, … nichts anderes als eine Art Verschwörung der Reichen” darstellten und damit zum äußersten Gegenteil einer christlichen und platonischen, also das Gemeinwohl hütenden Obrigkeit herunterkamen. (1, S. 123) Im Gegensatz zu meiner Wenigkeit hat Thomas Morus mit seiner Erzählung nicht nur ein neues literarisches Genre erschaffen, sondern gleich noch einige Grundideen in die Welt gesetzt, die spätere Schriftsteller und Philosophen aufnehmen würden, was wiederum zur Idee eines Naturrechtes führte, und einen ersten Höhepunkt in der französischen Revolution mitsamt dem Motto “Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit” fand.
Ein gutes Jahrhundert nach Thomas Morus befasste sich der italienische Dominikaner Tommaso Campanella (1568 -1639) in seinem “Sonnenstaat” (Civitas Solis) mit einer ähnlich utopischen Gesellschaft, diesmal eindeutig christlich geprägt - es ist ein Gottesstaat. Ansonsten gibt es einige gemeinsame Elemente der beiden Utopien, z.B. dreht sich der Handlungsort um eine Insel, es gibt gemeinsame Arbeit, eine kollektivistische Organisation, Gemeinbesitz, kein Geld, aber, im Gegensatz zu Morus, auch keine Sklaverei.
Francis Bacon, Portrait 1617
Francis Bacons (1561 - 1626, 1st Viscount St Alban) “Neu-Atlantis”, ein weiteres utopisches Werk, ist ebenso autark angelegt wie die beiden anderen Beispiele, sowie viele nachfolgende. Denn die Außenwelt der übrigen Menschen “ist voller Verderbtheit und Laster, getrieben von der Gier nach Gold, und man muss sie sich vom Halse halten. (1, S. 126)
Johann Valentin Andreae
In Christianopolis beschreibt der Rosenkreuzer Johann Valentin Andreae (1586 - 1654) ähnlich wie Campanella einen Gottesstaat. Während jedoch in der Sonnenstadt Wissen und Verständigkeit der Urquell alles Guten sind, spielt in Christianapolis das Christentum in Gestalt einer Aristokratie diese Rolle. Das Triumvirat an der Spitze besitzt jegliche Tugenden und schwört, die Stadt zu verteidigen.
Von der Reformationszeit bis ins Zeitalter der Aufklärung wurden weitere (rund drei oder vier Dutzend) literarische Utopien verfasst, die alle ähnliche, praktisch kommunistische Lösungen anbieten, wobei manchmal mehr, manchmal weniger Betonung auf Gleichheit gelegt wird, in der Regel aber stets hierarchische Strukturen gewahrt bleiben. Den meisten dieser Utopien gemeinsam ist, dass die Bewohner Utopias vom Rest der Welt weitgehend abgeschottet sind, dass die Bürger die Notwendigkeit von Beschränkungen und Gesetzen einsehen und sich freiwillig ihren Aufgaben und Pflichten unterziehen. Dass hier in Wirklichkeit von einer Gruppe von Heiligen die Rede ist, ficht die Autoren solcher Utopien, zu denen in der Neuzeit übrigens auch der Autor und Fabianist H.G. Wells angehört, nicht an.
In letzterem Punkt unterschied sich nun Thomas Hobbes, der in Leviathan zwar eine furchteinflößende “soziale Maschine” zeichnete, doch sind darin "“immer Akte eines selbständigen Handelns autonomer Subjekte vorausgesetzt, deren unvermeidliche Konflikte es durch ein striktes staatliches Gewaltmonopol einzuhegen gilt […]. (1, S. 125 f.)
Thomas Hobbes - Leviathan
Bleiben wir noch kurz bei Utopien, die im Gegensatz zu politischen Theorien standen, welche sich praktisch parallel entwickelten. Thomas Hobbes (1588 - 1679) veröffentlichte sein Werk “Leviathan” im Jahr 1651. Das war kurz nach der Beendigung des fürchterlichen 30-jährigen Krieges und dem westfälischen Friedensvertrag. England war von diesem Krieg zwar etwas weniger direkt betroffen, aber auch bei den Briten ging es turbulent zu. Dort wird gerade die “Glorious Revolution” ausgefochten, welche in der Hinrichtung Karls I. und der zeitweisen Übernahme der Macht durch das Parlament bzw. Oliver Cromwell als “Reichsprotektor” mündete. (1, S. 120) Leviathan ist ein philosophisches Werk, in dem Hobbes sich Gedanken über den Aufbau einer menschlichen Gesellschaft und die ideale Gestaltung der selben macht.
Thomas Hobbes, ca. 1669-70
Hobbes beschrieb wahrscheinlich als erster eine politische Ordnung, die sich auf der Annahme gründet, dass jeder gleich geboren ist und niemand über mehr Rechte verfügt als jeder andere. […] Ausgehend davon breitete sich der Gedanke bei verschiedenen Denkern der Aufklärung aus, die innig hofften, sie könnten in ihren eigenen Staaten Gleichheit erreichen, schrieb van Creveld in “Gleichheit. Das Falsche Versprechen” (S. 11). Hobbes verstand das Wesen eines Staates als einen künstlichen, vom Menschen erschaffenen Automaten, vergleichbar mit einer Uhr, nur viel größer. Ein Automat, der für den Schutz und die Verteidigung der Menschen gedacht war. Wie in einem Uhrwerk oder auch im menschlichen Körper hat jedes Teil des Ganzen eine spezielle Funktion oder notwendige Pflicht zu erfüllen.
Da der Mensch laut Hobbes von einem ständigen Machtstreben getrieben wird, würde ohne eine freiwillige Vereinbarung, also ein Gesellschaftsvertrag, beständiger Krieg herrschen, was zum Untergang der Menschheit führen würde. Unter diesem Vertrag geben sie all ihre Rechte ab und übertragen sie dem Gemeinwesen oder Staat oder Leviathan.
Zwar ist kein Teil des Ganzen ist wichtiger als das andere, andererseits sucht man den Begriff Freiheit in Hobbes Szenario natürlich vergebens. Creveld schrieb dazu:
Hobbes´Bürger waren gleich in dem Sinn, dass keiner von ihnen über irgendwelche Rechte verfügte; das erachtete er als wesentlichen Aspekt um sein Hauptziel zu erreichen, nämlich den Erhalt von Gesetz und Ordnung. (S. 12)
Während Hobbes Gleichheit also anstrebt, um Gesetz und Ordnung zu erhalten, sehen seine Nachfolger Gleichheit als Vorbedingung für Freiheit und Gerechtigkeit an, schreibt Creveld sinngemäß, was als “liberale Gleichheit” bezeichnet werden würde.
Hobbes führte noch eine andere Neuerung ein. Bei Hobbes wurde das Recht auf Machtausübung nicht mehr auf eine Person übertragen, sondern auf eine abstrakte Einheit. Modern ausgedrückt, repräsentiere der Herrscher diese Einheit lediglich.
Warum kommen mir beim Schreiben dieser Zeilen wohl immer wieder die EU-Kommissare in den Sinn?
Der Begriff Gleichheit spielte die längste Zeit in der Geschichte der Menschheit keine Rolle, erst die Utopisten befassten sich mit dem Thema. Wichtige Anliegen von Rebellen und Philosophen der Neuzeit waren andererseits die Abschaffung von Ungerechtigkeiten des Systems, wie z.B. Privilegien für einige wenige oder unterschiedliche Gesetze, sowie das Ende von Unterdrückung und Ausbeutung von Untertanen durch (künstlich) Höhergestellte.
Politische Theorie
Die Utopie hat das Ziel, eine ideale Gesellschaft zu skizzieren; die Politische Theorie dagegen versucht zu verstehen, wie wirkliche Staaten funktionieren oder funktionieren sollten. (Creveld, S. 159)
Mit der Realpolitik von Fürsten und “Staaten” befassten sich bis ins 16. Jahrhundert hinein sogenannte Fürstenspiegel, das bekannteste Beispiel hierfür dürfte Machiavellis “Il Principe” (1513) sein. Creveld erklärt den Unterschied zwischen Utopie, Fürstenspiegel und Politischer Theorie wie folgt:
Von der Utopie unterscheidet sich der Fürstenspiegel dadurch, dass er sich nicht mit erdachten Gesellschaften beschäftigt, sondern mit echten; und von der Politischen Theorie grenzt ihn die Zielsetzung ab, nämlich den Herrschern Grundsätze des richtigen Regierens aufzuzeigen und nicht Regierung und Politik als solche zu analysieren. (Creveld, S. 159)
Einen neuen Ansatz verfolgte nun der französische Rechtsgelehrte und Philosoph Jean Bodin (1530 - 1596), der offenbar den Begriff Souveränität und den souveränen Herrscher erfand. Souveränität bedeutete bei Bodin zunächst die Notwendigkeit, alle Macht in der Hand einer einzelnen Person oder Körperschaft zu bündeln. […] (3, S. 160) Zweitens implizierte dieses Prinzip, dass kein Herrscher eine Autorität über sich anerkennen konnte.
Jean Bodin
Letzterer Gedanke war insofern revolutionär (im Sinne von “das Rad zurückdrehend”), da zur Zeit des Erscheinens von Bodins sechsbändigen Werkes “Six livres de la république” (Über den Staat), 1571, “die Legitimation vorstaatlicher Herrschaftsformen in Europa zunehmend in Frage gestellt wurde”. (4)
Die Jahre 1562 bis 1648 waren von erbitterten Religionskriegen geprägt. In Frankreich und den Niederlanden fing es an, um sich dann in einem ganz Europa umfassenden Krieg wegen Thronfolgestreitigkeiten und Herrschaftsansprüchen auszuweiten, der auch noch in einen Religionskrieg ausartete. Protestanten und Katholiken schnitten sich gegenseitig die Kehlen durch, während nicht einmal die katholischen Länder einig waren oder eine geschlossene Front bildeten (das war eben der Teil mit den Herrschaftsansprüchen). Denn zumindest das riesige Habsburgerreich hätte doch eigentlich aufgrund der Katholizität eine Allianz bilden sollen, um sich vereint mit dem erzkatholischen Frankreich gegen die “Häresie” der zum Lutheranismus oder Calvinismus, kurz Protestantismus, abgefallenen Länder wie Schweden, England oder Holland zu stemmen.
Doch die katholische Allianz bröckelte schnell, nicht nur für Frankreich waren strategische Vorteile und Machtansprüche wichtiger als spirituelle Einheit.
Richelieu und der souveräne Staat
Armand-Jean du Plessis, der “rote” Kardinal von Richelieu
Obgleich nicht bekannt ist, ob Armand-Jean du Plessis, Kardinal von Richelieu und französischer Minister von 1624 bis 1642, Machiavellis “Der Staatsmann” gelesen hatte, so scheinen seine Methoden dies immerhin nahezulegen. Nicht abwegig ist auch die Annahme, dass die “Rote Eminenz” wenigstens Jean Bodins Werk (Über den Staat) gekannt hat.
Der für seine Rücksichtslosigkeit bekannt gewordene Kardinal und Minister brachte Frankreich auf Vordermann; durch die Zentralisierung der Autorität auf Paris, effizientere Methoden zur Steuereintreibung und indem er, bzw. eine Clique von gleichgesinnten Ministern, das Konzept der Souveränität zur neuen Regierungsdoktrin erhob. Allerdings verwendete Richelieu den Begriff ein wenig anders als Bodin. Henry Kissinger, dem viel nachgesagt wird, aber nicht, dass er nicht wusste, wie mit den Zentren der Macht umzugehen sei, schrieb in “World Order” folgendes:
“In den Feudalsystemen war die Autorität eine persönliche; die Herrschaft spiegelte den Willen des Herrschers wider, war aber auch durch die Tradition begrenzt und schränkte die Ressourcen ein, die einem Land für seine nationalen oder internationalen Aktionen zur Verfügung standen.” (S. 20f.) […]
Laut Kissingers Interpretation der Geschichte war Richelieu die Idee eines abstrakten Staates zu verdanken:
“Er erfand die Idee, dass der Staat ein abstraktes und dauerhaftes Gebilde ist, das aus eigenem Recht existiert. Seine Anforderungen wurden nicht von der Persönlichkeit des Herrschers, von Familieninteressen oder den universellen Forderungen der Religion bestimmt. Sein Leitstern war das nationale Interesse, das kalkulierbaren Prinzipien folgte - was später als Staatsraison bekannt wurde.” (S. 22)
In die selbe Leiste, möchte ich anfügen, hieb viel später, also in der Gegenwart, der Begriff “Realpolitik”, was an Leute wie Kissinger oder Frau Albright denken lässt. Außerdem komme ich nicht umhin zu bemerken, dass die Strategie des Richelieu dazu führte, die Macht des Königs zu schwächen, und dafür das Ministerialwesen und die Bürokratie zu stärken. Das ist wirklich nicht ironisch gemeint, sondern wörtlich, auch wenn damit natürlich nicht gesagt werden soll, dass Richelieu das alles so geplant hätte. Und natürlich ist es auch nur Spekulation, ob Leute wie Rockefeller, Gates, Schwab oder vielmehr deren “Berater” nicht zufällig mit den Schriften von Machiavelli, Richelieu und Bodin vertraut waren, als die sozialistisch-fabianische Neue Gesellschaftsordnung des 21. Jahrhunderts entworfen wurde.
“Der Mensch ist unsterblich”, verkündete Richelieu, “seine Erlösung liegt im Jenseits." Der Staat hingegen sei nicht unsterblich, seine Erlösung liege im Hier und Jetzt, oder nie. Richelieu scheint der Erfinder jener Art von Nationalstaat zu sein, in dem bald niemand mehr so recht zu sagen vermochte, wer nun eigentlich verantwortlich war für diese oder jene Maßnahme, und Horden von Bürokraten den Staat zunehmend losgelöst von den Bürgern - im Namen des Staates (bzw. der EU) - zu verwalten begannen.
Auch nach dem Tod Richelieus 1642 beeinflusste seine Politik unter dem Nachfolger Kardinal Mazarin die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden. In diesen konnte Frankreich die Bedingungen für seine zukünftige Vormachtstellung in Europa durchsetzen.
Frankreichs Außenpolitik beschritt einen Weg, der nach Richelieu auch von anderen Aspiranten mit Großmachtgelüsten beschritten wurde: Die Staaten in der Peripherie klein und untereinander zerstritten zu halten, und die Entstehung einer starken Zentralmacht in Europa zu verhindern.
Den vorläufigen Schlusspunkt dieser Kriege bildete der Vertrag, der zum Ende des sogenannten 30-jährigen Krieges abgeschlossen und “Westfälischer Friede” genannt wurde. Kurioserweise war einer der Faktoren, welche diesen Frieden ermöglichten, die Akzeptanz des Souveränitätsgedankens von Fürsten und Königen. Denn es hatte sich allmählich die Idee durchgesetzt, dass der alte Gedanke, manche Könige stünden höher als andere, falsch war. Als Ludwig XIV. diesen Konsens im sogenannten Devolutionskrieg 1667 - 1668 zu unterminieren versuchte, indem er alle möglichen Gebiete beanspruchte, auf die die französische Krone ihm zufolge irgendwelche alten Feudalrechte besaß, bestand sein einziger Erfolg darin, das übrige Europa gegen sich zu vereinen.
Die Wege zur Gleichheit sind unergründlich und verschlungen. Zunächst mussten offenbar die Herrscher ihre Gleichheit als Souverän anerkennen. Erstaunlich ist auch, wie sich der Begriff des “Souveräns” von damals im Verhältnis zu heute änderte. Ist heutzutage nicht das Volk angeblich der “Souverän”?
Utopie und “Praxis” der Staatsführung
In den meisten frühen Utopien wird irgendeine Form der höchsten Autorität anerkannt, bzw. für notwendig gehalten, woraus in der Regel eine Hierarchie folgt. Das Hauptanliegen vieler Autoren war in diesen kriegerischen Zeiten die Gewährleistung von Ordnung, während “Freiheit” eigentlich keine Rolle spielte, bzw. die Einschränkung jeglicher Freiheit zugunsten einer geordneten Welt willig in Kauf genommen wurde.
Eine Annäherung an ein Prinzip der Gleichheit von Allen kann wahrscheinlich nur in kleinen überschaubaren Gesellschaften erreicht werden, die vor jeglicher Bedrohung durch die Außenwelt weitgehend abgeschirmt sind. Das selbe gilt übrigens auch für Annäherungen an das Ideal einer vollkommenen Demokratie. In größeren, spezialisierten Gemeinschaften überwiegt sowohl in den Utopien als auch in der Wirklichkeit beinahe unweigerlich der Zwang zu organisatorischen Hierarchien. Es lässt sich argumentieren, dass es in menschlichen Gemeinschaften ab einer bestimmten Größe gar nicht ohne Hierarchie geht, weil eben nicht jeder die Funktion eines beliebigen anderen übernehmen kann. Da in Wirklichkeit nicht alle Menschen in jeder Hinsicht gleich ausgestattet sind.
Neben seiner Definition von Souveränität und der Idee des souveränen Herrschers hatte Hobbes noch etwas anderes eingeführt, oder wenigstens populär gemacht. Es ist die Idee eines Naturzustandes des Menschen, womit der Idee der Gleichheit aller Menschen machtvoll eine Bahn geschlagen wurde. Was praktisch - auch wenn es noch einige Zeit und ein paar Revolutionen dauern würde - unausweichlich zum Gedanken der Mitbestimmung führen würde und letztlich in der Idee von Parlamenten, Parteien und Nationalstaaten mündete, in denen das Volk angeblich der Souverän ist.
Denn trotz der Tatsache, “dass bisweilen der eine einen offensichtlich stärkeren Körper oder gewandteren Geist als der andere besitzt”, schrieb Hobbes, sei “der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich […], dass der eine auf Grund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebenso gut für sich verlangen dürfte”. Denn was die Körperstärke betrifft, so ist der Schwächste stark genug, den Stärksten zu töten - entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen, die sich in derselben Gefahr wie er selbst befinden. Was die geistigen Fähigkeiten betrifft, so geben sich die meisten Menschen sowieso der Meinung hin, dass sie selbst ziemlich schlau seien, “sodass jedermann mit seinem Anteil zufrieden” sei.
Allerdings sei der Mensch von einem dauernden Machtstreben getrieben, das erst mit dem Tod ende. Weil daher das Ergebnis der natürlichen Gleichheit ein ewiger Krieg aller gegen alle sei, der Mensch aber vernunftbegabt, wäre die einzige Lösung den Untergang zu vermeiden, sich auf eine Vereinbarung, eine Art Gesellschaftsvertrag zu einigen.
Die fragliche Definition eines Naturzustandes
Hobbes versuchte den Spagat, indem die Legitimation eines Herrschers nicht von göttlicher Herkunft, der Gunst Gottes, der irdischen Abstammung oder von Reichtum abhängig gemacht wurde, sondern der Herrscher trug die Einheit eines Staates sozusagen auf seinen Schultern und verkörperte sie lediglich. Wie wir gesehen haben, wurde dieses Prinzip von Richelieu später aufgegriffen und umgesetzt, was zu einer höchst effizienten Ministerialbürokratie führte.
John Locke
John Locke (1632 - 1704) stellte die Idee in Frage, alle Menschen seien von Natur aus gleich und ließen sich nur durch die Einrichtung eines absoluten Staates daran hindern, sich selbst zu zerstören. Er versuchte stattdessen die Gleichheit aus dem Christentum abzuleiten. Gleichzeitig versuchte er aber auch Gleichheit mit einer gewissen (Wahl)-Freiheit zu kombinieren. Er plädierte dafür, den Gedanken eines einzelnen Herrschers aufzugeben, und stattdessen die Amtsgewalt auf verschiedene Mächte aufzuteilen, die sich gegenseitig ausgleichen würden. Vor allem aber müsse die Regierung das Einverständnis der Regierten haben. Das Volk musste Gelegenheit erhalten, seine Regenten auszutauschen, wenn es ihm angemessen schien. (Creveld, S. 163) Locke selbst erklärte nie, wie eine Konsensregierung aussehen sollte.
Jean-Jaques Rousseau (1712 - 1778)
Jean-Jaques Rousseau
Jean-Jaques Rousseau glaubte ebenso wie Hobbes fest an einen ursprünglichen Naturzustand, der einst in ferner Vergangenheit vor dem Einsatz der Geschichte existiert hätte. Im Gegensatz zu Hobbes glaubte er jedoch nicht an einen Krieg aller gegen alle, und er erschuf den Begriff der “edlen Wilden”, die gar nicht böse sein konnten, weil sie nicht wüssten, was gut und böse ist. Dennoch sei eine Eigenschaft “des Wilden” die Güte sowie Mitleid. Somit wäre “die Ungleichheit im Naturzustand kaum fühlbar (…) und ihr Einfluss dort fast null.” Der Mensch habe mit wachsender Bevölkerung, Spezialisierung und Arbeitsteilung seine Unschuld verloren, und diese gelte es insbesondere durch Erziehung und Bildung der Kinder sowie die Vorbildfunktion der Erwachsenen wenigstens teilweise wieder herzustellen. Gerd Koenen schrieb in “Die Farbe Rot”:
Für Rousseau begann das geschichtliche Verhängnis mit dem Privateigentum an Grund und Boden: «Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‹Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.›»
Dabei fiel die Gier nach Eigentum und Wohlstand mit dem Streben nach Macht und Prestige zusammen, das genauso maß- und grenzenlos war. Anders als die Utopisten oder die Sonntagsprediger tröstete Rousseau sich auch nicht mit idealen Gegenbildern oder mit verklärten Erinnerungen an ein «Goldenes Zeitalter», sondern beschrieb das beinahe Zwangsläufige dieses negativen Zivilisationsprozesses.»
Was Rousseau vertrat, war, laut Koenen, entgegen einem früh verbreiteten Vorurteil kein «Zurück zur Natur», sondern eher ein «Zurück zu den Alten» – so in einer Passage in seinem «Diskurs über die Ungleichheit», in der es hieß: «Es gibt … ein [Zeit-]Alter, bei dem der individuelle Mensch gerne stehenbleiben würde.» Analog dazu gelte es für den Philosophen, «das [Zeit-]Alter (zu) suchen, von dem du wünschtest, deine Art wäre bei ihm stehen geblieben»1
Als Lösung für das Problem nennt auch Rousseau eine Art Gesellschaftsvertrag. Der Text dieses Vertrages lautet: “Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren des Teil des Ganzen auf. An die Stelle der einzelnen Person jedes Vertragsschließenden setzt solcher Gesellschaftsvertrag sofort einen geistigen Gesamtkörper, dessen Mitglieder aus sämtlichen Stimmabgebenden bestehen.” Übrig bleib die Versammlung, in der dem Gemeinwillen Ausdruck verliehen würde.
In dieser “totalitären Demokratie”, wie sie einmal genannt wurde, ist der Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit aufgehoben. Creveld, S. 168)
Allerdings ist ein Ausscheren aus dieser Gesellschaft von Gleichgesinnten nicht möglich, weshalb Rousseaus ideale Gesellschaft sogar noch weniger Freiheit bietet und noch weniger individuelle Freiheit toleriert als in Hobbes Leviathan als gegeben angesehen wird.
In den letzten Jahren konnte jeder, der Auge hat, sehen, wie weit es kommt, wenn einmal “Group-Think” und Massenpsychosen am Werk sind. Hinzu kommt: selbst eine Konsensregierung ist und bleibt eine Regierung. Selbst die zeitweilige Verfügungsmacht eines Einzelnen über andere Bürger bedeutet, dass die Macht, wenn auch nur zeitweilig, ungleich verteilt ist.
Für seine Quadratur des Kreises führte Rousseau zwei Maßnahmen ein: Erstens sollten die Beamten nicht durch Wahl, sondern durch das Los bestimmt werden; zweitens ging die Souveränität an die Nationalversammlung über, deren Beschlüsse den “Gemeinwillen” widerspiegeln würden, in welchem die Individuen sich auflösen sollten. (Crefeld, S. 170)
Nicht nur Creveld ist der Ansicht, dass ein System, in dem einfach jeder selbst in die verantwortungsvollsten Positionen per Zufallsprinzip gelangen kann, eines seriösen Denkers unwürdig ist. Klar ist auch, dass Rousseaus System nur in kleinen überschaubaren Gemeinschaften funktionieren würde, wenn überhaupt. Was jeder bestätigen kann, der schon einmal in einer Wohngemeinschaft gelebt hat. Als Ausweg aus diesem Dilemma bietet Rousseau die Repräsentation an, eine Methode also, nach der einige Menschen im Namen anderer sprechen.
François-Marie d’Arouet (1694–1778), besser bekannt als Voltaire
François-Marie d’Arouet (Voltaire)
Wenig bekannt ist heutzutage die Rolle, die Voltaire beim Gelehrtenstreit zwischen Newtonianern und Cartesianern spielte. Zwar ist Isaac Newton hauptsächlich als Erfinder der Gravitationstheorie in die Geschichte eingegangen, aber der Universalgelehrte Newton entwickelte (unter anderem) auch eine Naturphilosophie, die im Gegensatz zu den Grundpfeilern der Philosophie des französischen Philosophen Descartes stand, dessen Satz “Ich denke, also bin ich” über seine Zeit hinaus im Geschichtsgedächtnis haften blieb. Wie die biblische Schöpfungsgeschichte allmählich wissenschaftlich interpretiert zu werden begann, der Streit zwischen Newton und Leibniz und vieles mehr ist Thema von
Vom Schutzamulett zur Schutzimpfung 4 - 5
Bild: Frontispiece of „The Granite Controversy“ by H. H. Read (1957), drawn by D. A. Walton. Die Karikatur [Kartoon gefunden auf Quelle] trägt den Titel „Die Granit Kontroverse.“ Wieder möchte ich darauf hinweisen, dass allfällige Fußnoten aus Word leider nicht ins substack-Format übertragen werden (ebenso wie Grafiken und unglücklicherweise auch in Kurs…
Voltaire bezog im Streit der Anhänger Newtons und Leibniz´ abermals Position zugunsten des mittlerweile verstorbenen Newton. Voltaire wandte sich vor allem aber gegen Aberglauben und gegen das kirchliche und aristo-monarchische Establishment.
Diese Verflechtung von Philosophie mit Sozialkritik und reformistischem politischem Handeln, ein zufälliges historisches Ergebnis von Voltaires besonderer intellektueller Karriere, sollte sein nachhaltigster Beitrag zur Geschichte der Philosophie werden. Wenig erstaunlich war somit, dass auch Voltaire zum Kreis der Enzyklopädisten um Diderot gehörte und viele Beiträge lieferte.
Der erste Band dieses Kompendiums von Definitionen erschien 1751, und fast augenblicklich wurde das Werk unter der Art von Skandal begraben, an die Voltaire gewöhnt war. Insbesondere von Seiten der Jesuiten in Paris blies den Enzyklopädisten heftiger Gegenwind entgegen, doch diese gaben sich nicht geschlagen, und setzten ihre Anstrengungen, ihre wissenschaftliche Enzyklopädie zu verbreiten, zeitweise ins Schweizer Exil gezwungen, beharrlich fort.
Diese Bemühungen waren 1763 erfolgreich, und schon bald versuchten die Philosophen, die Akademien und andere Wissenseinrichtungen in Frankreich zu unterwandern. Ein Höhepunkt dieser Bemühungen wurde 1774 erreicht, als der Enzyklopädist und Freund von Voltaire und den Philosophen, Anne-Robert Jacques Turgot, vom neu gekrönten König Ludwig XVI. zum Generalkontrolleur Frankreichs ernannt wurde, dem mächtigsten Ministerposten des Königreichs. Voltaire und seine Verbündeten hatten in den 1760er und 1770er Jahren mit einer Flut von Schriften den Weg für diesen Sieg geebnet, in denen sie die Philosophie, wie sie Turgot vertrat, als Trägerin aufgeklärter Reformen und ihre Kritiker als voreingenommene Verteidiger einer verknöcherten Tradition darstellten. [plato.stanford.edu]
Exakt zu dieser Zeit (ab 1773) trug der Rektor der Ingolstädter Universität, Adam Weishaupt, seinen Kampf gegen die Jesuiten aus.
Voltaire schrieb Geschichtswerke, z.B. über den schwedischen König Gustav, aber auch Satiren, Gedichte, fiktive Geschichten, Pamphlete und andere Schriften, die den philosophischen Inhalt eher untergründig transportierten. Eine der Fragen, die nicht nur Voltaire immer wieder umtrieb, war das Thema Freiheit und wie Materialismus, Rationalismus, Determinismus und Absicht zu einander in Beziehung stünden.
Für Voltaire ist der Mensch keine deterministische Maschine aus Materie und Bewegung, so dass es einen freien Willen gibt. Aber der Mensch ist auch ein natürliches Wesen, das von unerbittlichen Naturgesetzen beherrscht wird, und seine Ethik verankerte das richtige Handeln in einem Selbst, das das natürliche Licht der Vernunft immanent besaß.
[…] Voltaire wurde zu einer führenden Kraft in der breiteren Aufklärung, die eine Moral formulierte, die auf der positiven Bewertung des persönlichen und insbesondere des körperlichen Vergnügens beruhte, sowie eine Ethik, die in einem hedonistischen Kalkül der Maximierung des Vergnügens und der Minimierung des Schmerzes wurzelte. [plato.stanford.edu]
Weiterhin waren Skeptizismus ebenso wie Empirismus Bestandteil von Voltaire´s Philosophie.
Einige weitere Philosophen der Aufklärung
Zwar gehörten Rousseau und Locke mit zu den einflussreichsten Naturphilosophen Englands und Frankreichs, die sich mit diesem Naturrecht befassten und daraus eine natürliche Gesellschaftsform ableiten wollten, doch war das 18. Jahrhundert so überaus reich an Sozial- und Naturphilosophen auch z.B. in Preußen, dass selbst ein geraffter Überblick an der Fülle des Materials scheitert. Dennoch erscheint es angebracht, noch einen kurzen Überblick über die Ideen einger weiterer Forscher vorzustellen. Dies geschieht hautpsächlich im Hinblick auf den nächsten Teil dieser Serie, in welchem der Revolutionär “Gracchus” Babeuf im Mittelpunkt steht, der die Verschwörung der Gleichen anzettelte. Babeuf wurde von einer Reihe von Schriftstellern beeinflusst, einige von ihnen möchte ich nachfolgend möglichst knapp skizzieren.
Paul Heinrich Dietrich, Baron D'Holbach (1723-1789)
Holbach war ein deutsch-französischer Philosoph, der einen großen Teil seines Lebens in Paris verbrachte. Einen großen Teil seines Ruhms verdankt Holbach der Arbeit an einer großen Enzyklopädie, die ihn mit anderen großen Denkern und Naturphilosophen seiner Zeit zusammenbrachte:
Helvetius, D'Alembert, Diderot, Condillac, Turgot, Buffon, Grimm, Hume, Garrick, Wilkes, Sterne. Auch Rousseau gehörte eine Zeit lang zu diesem Kreis. Diderot (s.u.) gilt neben D'Alembert als einer der ursprünglichen Ideengeber der Enzyklopädie.
Holbachs Beitrag zu dieser Enzyklopädie scheint sich jedoch hauptsächlich auf die Übersetzung von chemischen und mineralogischen Texten aus dem Deutschen beschränkt zu haben. 1767 veröffentlichte er mit “Christianisme” eine Kritik am Christentum, in welchem er das Christentum und Religionen für alles Übel der Welt verantwortlich machte.
Baron D'Holbach, Portrait by Alexander Roslin
Es folgten weitere Werke und 1770 ein noch offenerer Angriff in seinem berühmtesten Buch, Le Systeme de la nature, bei dem er wahrscheinlich von Diderot unterstützt wurde. Holbach, der die Existenz einer Gottheit leugnete und sich weigerte, alle apriorischen Argumente als Beweise anzuerkennen, sah im Universum nichts als Materie in spontaner Bewegung. Das, was der Mensch seine Seele nennt, erlischt, wenn der Körper stirbt. Glück sei die Bestimmung der Menschheit. "Es wäre sinnlos und fast ungerecht, darauf zu bestehen, dass ein Mensch tugendhaft ist, wenn er es nicht sein kann, ohne unglücklich zu sein. Solange das Laster ihn glücklich macht, sollte er das Laster lieben." Die Zwänge der Religion sollten durch eine Erziehung (!) ersetzt werden, die ein aufgeklärtes Eigeninteresse fördert. Das Studium der Wissenschaften sollte die menschlichen Begierden in Einklang mit ihrer natürlichen Umgebung bringen. Bei seinen Schlussfolgerungen beruft sich Holbach auf logische Konsequenzen der Theorien der Enzyklopädisten. Voltaire griff eilig zur Feder, um die Philosophie der Systeme in dem Artikel "Dieu" in seinem Dictionnaire philosophique zu widerlegen, und auch Friedrich der Große verfasste eine Antwort darauf. [studylight.org]
Denis Diderot (1713 - 1784)
Denis Diderot, Portrait von Louis-Michel van Loo (1767)
Denis Diderot (1713-1784) wird oft als Voltaires (s.u.) Stellvertreter angesehen, da sich die Philosophen der Aufklärung nach 1750 um beide Männer scharten. Das epochale Projekt, das Diderot gemeinsam mit Jean le Rond D'Alembert verfolgte, nämlich durch eine umfassende Enzyklopädie oder ein begründetes Wörterbuch der Künste, Wissenschaften und Berufe "die allgemeine Denkweise zu ändern", gab der aufkommenden Philosophenbewegung das Ziel vor, um das sie sich scharen sollte.
Es kam mir der Gedanke, dass die Fabian Society mit der Gründung der London School of Economics diesen Faden wieder aufgenommen hat.
Diderot setzte sich gemeinsam mit Voltaire vehement für das Projekt der Encyclopédie und ihre Grundsätze ein und wurde so neben Voltaire zum öffentlichen Führer der philosophischen Partei der Aufklärung in Frankreich. Wie Voltaire war auch er ein Schriftsteller und kritischer Intellektueller, der sich bereitwillig gegen die etablierten Autoritäten stellte und die Philosophie als Mittel für politischen und sozialen Aktivismus nutzte. Dennoch verfolgte Diderots Philosophie weitaus mehr Ziele und Dimensionen als die von Voltaire. Außerdem hinterließ er einen Korpus philosophischer Schriften, der ihn als den wohl anspruchsvollsten aller Aufklärer und als einen der großen philosophischen Denker des 18. Jahrhunderts auszeichnet. [plato.stanford.edu]
Diderot war ein großer Anhänger der Mathematik und der Geometrie, und er glaubte, dass alle Wissenschaften auch in der Zukunft nicht wesentlich über die Erkenntnisse der Mathematiker seiner Zeit hinausgehen würden, und dass Alles im Sinne von mathematischen und geometrischen Regeln erklärt werden könne.
Claude-Adrien Helvétius (1715–71)
Helvétius (urspr. Schweizer) war eine der bemerkenswertesten und berüchtigtsten Persönlichkeiten der französischen Aufklärung. Wie seine Mitphilosophen vertrat er die Ansicht, dass alle philosophischen Diskussionen auf dem Empirismus von Lockes Essay on Human Understanding (1689) beruhen sollten. Doch im Gegensatz zu Voltaire, d'Alembert und den anderen Mitgliedern der "Partei der Humanität" nahm Helvétius die Vorstellung, dass jeder Mensch bei seiner Geburt eine tabula rasa ist, wörtlich - er vertrat kühn die These eines unverhohlenen Umweltdeterminismus. Wir sind das, was unsere Umgebung aus uns gemacht hat, und nichts weiter.
Claude-Adrien Helvétius
Unmittelbar nachdem Helvétius 1758 De l'Esprit veröffentlicht hatte, zitierten die katholischen Behörden sein Buch als endgültigen Beweis dafür, dass die Philosophen Religion, Thron, Familie und alles, was heilig ist, zerstören wollten. Nur der Kampf zwischen Hof und Parlament um die Kontrolle der Zensur und seine Beziehungen zu Madame de Pompadour und dem Duc de Choiseul retteten Helvétius. Nachdem er die Demütigung dreier Widerrufe erlitten hatte, entschloss er sich zur posthumen Veröffentlichung seines zweiten Hauptwerks, De l'Homme (1773). [rep.routledge.com]
Der Enzyklopädist Helvetius führte in Zusammenhang mit den menschlichen Leidenschaften einen Kunstgriff ein, und schlug vor, dass die Moralphilosophen «statt dessen von moralischen Opfern von Interessen” sprechen sollten. Gerd Koenen schrieb dazu:
So also kam das Wort «Interesse» als ein neutralisierendes, rationalen Abwägungen zugängliches Element in die Gesellschaftstheorien, nicht zufällig auch mit der Bedeutung von «interest» oder «intérêt» als Zins. Eine Abwägung der «Interessen» konnte demnach politisches und soziales mit wirtschaftlichem Handeln verknüpfen.
Nichts anderes als diese Philosophie wird den Erfinder der Spiele-Theorie, John Nash von der R.A.N.D.-Corporation, in Zeiten des Kalten Krieges umtreiben.
«Interest will not lie», sagte ein geflügeltes Wort aus dieser Zeit. Schritt für Schritt mutierte im praktischen Alltagsbewusstsein wie in den philosophischen Diskursen so ausgerechnet die «Habgier» als Wurzel aller Übel (neben dem Hochmut) in der neutralen Formulierung eines «Erwerbstriebs» zu einer Tugend, vor allem, weil dieser Trieb im Gegensatz zu den «blinden» Leidenschaften von Eros und Gewalt eine größere Berechenbarkeit und Beständigkeit versprach. Mehr noch: Der auf Verträgen beruhende Warenhandel erschien jetzt als ein Element, das barbarische Sitten und Bräuche mildern, den Horizont erweitern und Vorurteile überwinden helfe.
Das Entscheidende in diesem noch durchaus zaghaften und defensiven Paradigmenwechsel war der Konnex von Rechtlichkeit und Berechenbarkeit – der zu einem nächsten Gedanken führte: nämlich dass man die «Gesetze» des gesellschaftlichen Handelns, namentlich die des wirtschaftlichen Agierens, rational erfassen und damit in positive Politik umsetzen könne; und dass die Regierungen schließlich dazu zu bringen seien, im eigenen «Interesse» auch ihrerseits rational zu operieren.2
David Hume (1711 - 1776)
David Hume, Gravierung aus dem ersten Band von The History of England, 1754
Er verstand die Philosophie als induktive, experimentelle Wissenschaft von der menschlichen Natur. Sein erstes Hauptwerk, A Treatise of Human Nature (1739-40), erklärt den Ursprung der Ideen, einschließlich der Ideen von Raum, Zeit und Kausalität, in der Sinneserfahrung; es enthält eine ausführliche Darstellung der affektiven oder emotionalen Aspekte des Geistes und weist der Vernunft eine untergeordnete Rolle in dieser Ordnung zu ("Die Vernunft ist und sollte nur der Sklave der Leidenschaften sein"); und beschreibt die moralische Güte in Form von "Gefühlen" der Zustimmung oder Missbilligung, die ein Mensch hat, wenn er menschliches Verhalten im Lichte der angenehmen oder unangenehmen Folgen für sich selbst oder für andere betrachtet.
Auch diese Theorie wird ab den 1960er Jahren zur Leitlinie von Psychologen. R.D. Laing transponierte die aus der Spiele-Theorie abgeleitete Vorstellung vom Giermenschen in andere Bereiche der Gesellschaft. Er führte Studien in Familien mit Schizophrenen und in „normalen“ Familien durch und „bewies“, dass jeder Mensch nur auf seinen Vorteil bedacht ist und Verhaltensweisen in sozialen Strukturen als Machtmittel eingesetzt werden, um etwas zu erreichen und sein Ego durchzusetzen (Liebe ist nur eine Art Waffe). Die Psychiatrie richtete sich fortan an dieser Sicht des Menschen aus, normal war, wer dieser Sicht von Normalität entsprach. [matrix169.wordpress.com]
Spät im Leben verwarf Hume die Abhandlung als jugendlich und überarbeitete Buch I der Abhandlung als An Enquiry Concerning Human Understanding (1758); eine Überarbeitung von Buch III wurde als An Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751) veröffentlicht. Seine Dialogues Concerning Natural Religion (1779), die eine Widerlegung des Arguments des Designs und eine Kritik der Vorstellung von Wundern enthalten, wurden auf Drängen von Freunden zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht. Aus seiner Darstellung des Ursprungs der Ideen schloss Hume, dass wir kein Wissen von einem "Selbst" als dauerhaftem Subjekt der Erfahrung haben; auch haben wir kein Wissen von einer "notwendigen Verbindung" zwischen kausal zusammenhängenden Ereignissen. [britannica.com] Immanuel Kant wurde von Humes Ideen zu seinen eigenen Schriften und Schlussfolgerungen angeregt.
Marquis de Condorcet (1743 – 1794)
Der Marquis de Condorcet, wird häufig als früher Vertreter der Sozialwissenschaft bezeichnet.
Marie-Jean-Antoine-Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet
Condorcet war ein begeisterter Verfechter der Menschenrechte, der nach seinen ersten Errungenschaften in der Mathematik (in der Wahrscheinlichkeitsrechnung) in den öffentlichen Dienst wechselte, mit dem Ziel, ein wissenschaftliches Modell, das er als "soziale Arithmetik" bezeichnete, auf soziale und politische Angelegenheiten anzuwenden. Durch Bildungs- und Verfassungsreformen hoffte er, ein liberales, rationales und demokratisches Gemeinwesen zu schaffen. Er setzte sich für den sozialen Nutzen der Statistik und der Wahrscheinlichkeitstheorie ein und wandte mathematische Berechnungen auf Finanzkrisen, die Reform der Krankenhausversorgung, die Entscheidungsfindung von Geschworenen und Wahlverfahren an. Seine Texte und Bücher handelten weiter von Erziehungsreform, politischer Arithmetik, Demografik. Am besten in Erinnerung geblieben ist er als Autor des posthum veröffentlichten letzten Werks Esquisse d'un tableau historique de des progres de l'esprit humain [Skizze für ein historisches Bild des Fortschritts des menschlichen Geistes] (1794), in dem er die Etappen des menschlichen Fortschritts diagnostizierte, einschließlich dessen, was noch kommen würde. Weit weniger bekannt ist jedoch Condorcets außergewöhnliches Eintreten für die Rechte der Frauen.
[…] Noch bevor er sich öffentlich mit der Frauenfrage befasste, setzte er sich lautstark für die Menschlichkeit und die Rechte versklavter Afrikaner ein und schlug die Abschaffung der Sklaverei in den französischen Überseekolonien vor. Sein 1781 erschienenes Werk Réflexions sur l'esclavage des nègres [Überlegungen zur Sklaverei der Schwarzen] trug dazu bei, die abolitionistische Bewegung in Frankreich anzustacheln, die sich Anfang 1788 in der neu gegründeten Société des Amis des Noirs [Gesellschaft der Freunde der Schwarzen] zusammenfand, deren Präsident Condorcet im Januar 1789 wurde. [plato.stanford.edu]
Vieles mehr könnte noch gesagt werden zu den Freidenkern, Schriftstellern, Naturphilosophen und Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts, und ihren Kämpfen, untereinander ebenso wie mit der Obrigkeit. Viel zu viele müssen unerwähnt bleiben, z.B. Quesnay und Turgot, ebenso wie Concordet frühe Nationalökonomen. Von der Fülle von neuartigen Ideen und Moralvorstellungen, die im 18. Jahrhundert das Licht der Welt erblickten, zehren Reformer des 19. Jahrhunderts, und sie finden sich auch in den Grundlagen der Sozialwissenschaften im späten 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts widergespiegelt. Manchmal kam mir beim Studium dieser Philosophen gar der ketzerische Gedanke, dass nichts Neues mehr entstand seit den Tagen der Aufklärung. Allenfalls Variationen des selben Themas oder ein Aufwasch von Gedanken, die alle schon einmal gedacht worden waren.
Repräsentative Parlamente vs. Naturrecht und der Wiener Kongress
Der Ursprung des Systems der Repräsentation von Ständen ist übrigens im Feudalsystem zu verorten. Viele europäische Länder besaßen Parlamente, in denen die Vertreter, sprich Repräsentanten, der drei Stände saßen. Mit Demokratie oder Gleichheit hatte dieses System allerdings wenig zu tun, weswegen wir uns die “Magna Charta” von 1215 und das Zweikammersystem der Briten sparen können.
Denn dieses repräsentative Zweikammersystem führte mehr oder weniger direkt zu politischen Parteien und dem, was wir heutzutage haben: dass weder Sie noch ich, gegen ein Gesetz stimmen können, bzw., dass es überhaupt keine Rolle zu spielen scheint, was selbst ein prozentual bedeutsamer Teil der Bürgerschaft über dieses oder jenes Thema oder Gesetz denkt.
Philosophen der Aufklärung wie Rousseau, Voltaire, Locke und weitere experimentierten mit der Idee des Naturzustandes, oder Naturrecht, wie es auch genannt wurde, und sie versuchten außerdem die Forderung der Gleichheit vor dem Gesetz und der Abschaffung der Adelsprivilegien mit der Idee der übertragbaren Souveränität innerhalb eines Staates zu verbinden. Schließlich wurde die Idee von Nationalstaaten geboren.
Was diese Gleichheit aller Menschen und das Naturrecht anbelangt, so gab es damals starken Gegenwind von mehreren Seiten. Denn konnte man wirklich sagen, dass die Schwarzen, also die Sklaven echte Menschen waren, oder waren sie nicht vielmehr minderwertig? Klimatheorien, Aristoteles und die Bibel wurden bemüht, um aufzuzeigen, dass es mit dem profitablen Sklavengeschäft durchaus seine Rechtmäßigkeit hätte, doch befanden sich die Befürworter der Sklaverei gleichsam auf einem untergehenden Schiff. Gleichheit (vor dem Gesetz), so wurde immer mehr klar, konnte nicht nur für Weiße gelten.
Nach den Napoleonischen Kriegen siegte zunächst noch die Gegenrevolution der Heiligen Allianz, in welcher die führenden Großmächte Österreich-Ungarn, Russland, Preußen und schließlich auch noch Frankreich eine Art Burgfrieden aushandelten, um kriegerische Auseinandersetzungen fortan, für einige Zeit, vornehmlich in den Kolonien auszufechten. Während gleichzeitig die Kräfte gebündelt wurden, um die immer wieder aufflammenden Rebellionen und demokratischen Bewegungen niederzuschlagen.
Doch die Bresche, die durch Gedanken wie Gleichheit, Naturrecht und dann auch noch Demokratie, geschlagen worden war, war nicht mehr zu stopfen, wozu die allgemeine Industrialisierung noch ihr übriges beitrug.
Was im nächsten Teil endlich zu den Fabianisten führt, und was diese wohl mit Marx und Engels verbindet.
Versuch eines Resümees
Einige Punkte, die mir während des Umwegs, den meine Recherchen nahmen, auffielen, möchte ich am Schluss zusammenfassen:
Menschen, die sich eher weniger mit dem 16. bis 18. Jahrhundert befassen, können sich wahrscheinlich nicht einmal im Ansatz vorstellen, mit welcher Realität gewöhnliche Menschen jener Zeit in Europa (und anderswo) tagtäglich konfrontiert wurden. Wenn ich die Zahlen noch richtig im Kopf habe, dann hatte man beispielsweise in Schleswig zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch etwa alle drei Jahre die Chance sich eine potentiell tödliche Krankheit wie Pocken, Pest, die Kriebel-Krankheit, Malaria, Tuberkulose oder das “Fieber” zuzuziehen. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag zur selben Zeit, Anfang des 18. Jahrhunderts, in Frankreich bei weniger als 30 Jahren. Die Kindersterblichkeit war enorm hoch. Dazu kamen die ständigen Kriege, die Mitteleuropa regelmäßig verwüsteten, was Hungersnöte hervorrief und das allgemeine Elend verstärkte. Dass die Gegner im europäischen Religionskrieg Landsleute waren, fügte der Situation eine surreale Note hinzu. Die Hexenverfolgung erlebte zu Beginn des 17. Jahrhunderts einen Höhepunkt.
Wen wundert es, wenn nicht nur die einfachen Menschen jener Zeit von Gier getrieben wurden, wie die Philosophen bemängelten. Dies galt aber umso mehr für die Nutznießer des Feudalsystems.
Klar ist nach diesem kleinen Ausflug, dass absolute Gleichheit einerseits eine Utopie ist und andererseits nicht einmal im Idealfall (auf einer autarken Insel, im Kloster oder beim Militär) automatisch zu Freiheit oder auch nur Gerechtigkeit führt.
Anlässlich der Französischen Revolution gefordert wurden Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Im Sozialismus wurde daraus Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Der Gedanke an eine freie Gesellschaft und freie Individuen wurde im Zuge des Materialismus und des Determinismus offenbar mehr und mehr als Utopie abgetan.
Bezeichnend ist, dass eine freie Gesellschaft nur ein Minimum an staatlichen Eingriffen benötigt, während das Konzept der Gleichheit seines ursprünglichen Sinnes beraubt wurde, und nun jede Menge Regulierungen des Staates rechtfertigt. Das Prinzip von Mitmenschlichkeit, Solidarität oder Brüderlichkeit, wurde unterdessen entmenschlicht, d.h. durch eine bürokratische Technokratie bzw. vom Staat übernommen, was auf einen riesigen Sozialstaatsapparat hinausläuft.
Es gibt eine sehr einfache Formel, nach der individuelle Freiheit und staatliche Kontrolle berchnet werden können:
Je mehr Staatskollektivismus, desto weniger Freiheit für das Individuum.
Dass hier irgendwie ein ausgewogenes Gleichgewicht gefunden werden muss, wurde im Lauf der Zeit vor lauter Begeisterung über soziale Theorien und Utopien menschlicher Gesellschaften vergessen.
Einige weiterführende Quellen und Links
Die Farbe ROT - Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, Gerd Koenen, C.H. Beck 2017 - ein überaus empfehlenswertes, über 1100 Seiten starkes Buch.
“LEVIATHAN OR THE MATTER, FORME, & POWER OF A COMMON-WEALTH ECCLESIASTICAL AND CIVILL“ https://www.gutenberg.org/files/3207/3207-h/3207-h.htm
Gleichheit. Das Falsche Versprechen, Martin van Creveld, Edition Sonderwege 2015
Eine kurze Geschichte der Gleichheit, Thomas Piketty, C.H. Beck 2023
World Order, Henry Kissinger, Penguin Books 2015
http://classiques.uqac.ca/classiques/bodin_jean/six_livres_republique/six_livres_republique.html
https://museeprotestant.org/de/notice/die-hugenottische-fluchtbewegung/
http://www.archiv-swv.de/pdf-bank/DieFabianGesellschaft2013.pdf
History of the Fabian Society von Edward Pease https://archive.org/details/cu31924002405599
https://spartacus-educational.com/TUpease.htm
https://www.jstor.org/stable/985478
https://www.historeo.de/datum/1884-gruendung-der-fabian-society
https://www.thevoid.uk/void-post/the-fabian-society-and-their-secret-agenda-astralwalker/
Die Farbe Rot - Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, C.H. Beck 2017, S. 142
Die Farbe Rot - Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, C.H. Beck 2017, S. 132