Die Öffentliche Meinung (Walter Lippmann, 1922)
Was eine Pseudo-Umwelt ist und wie sie manipuliert wird
Dieses Photo soll aus dem Jahr 1928 stammen, und zeigt den berühmten Löwen von Metro- Goldwyn-Meyer (MGM), das 1924 gegründete Filmstudio. Zwei Jahre zuvor hatte Walter Lippmann (1889-1974) sein einflussreiches Werk “Public Opinion” veröffentlicht. Obwohl das Buch vor über 100 Jahren geschrieben wurde, und wissenschaftlichen Maßstäben nicht unbedingt standhält, werden darin Konzepte beschrieben, die es auch heute noch wert sind, besprochen zu werden.
1) Einleitung - über Politik, Historiker und Journalismus
Haben Sie manchmal das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt mit der Art und Weise wie Politik gemacht wird? Dass gravierende Entscheidungen von oben herab bestimmt werden, die von demokratischen Prozessen, wie sie einst verstanden wurden, völlig entkoppelt sind? Dass Politiker und Entscheider in diversen Gremien, Institutionen und “Expertenrunden” in einer Art Parallelwelt leben, die nichts mit der Realität der Bürger oder ihren persönlichen Nöten, Wünschen und Vorstellungen zu tun hat? Oder glauben Sie noch, dass die meisten Politiker sich dem Öffentlichen Gemeinwohl verschrieben haben, welches anhand der “Öffentlichen Meinung” und unter Berücksichtigung der Wissenschaft definiert wird, wodurch letztendlich die Wünsche der Mehrheit reflektiert werden und dem Gemeinwohl am besten gedient wird?
Wenn Sie heutzutage, im Spätherbst 2023, noch immer der zuletzt genannten Vorstellung anhängen, dann wendet sich diese Artikelreihe insbesondere an Sie. Aber auch für Leser, in denen sich im Laufe der letzten Jahre eine skeptische Einstellung entwickelt hat, könnte sich ein Blick auf die nachfolgenden Zeilen lohnen.
Es gibt eine alte Redewendung, deren Wahrheitsgehalt kaum angezweifelt wird. Sie lautet: „Der Sieger schreibt die Geschichte“. Was das bedeutet, ist zunächst einmal, dass Politiker und Historiker einer siegreichen Partei nach einem Krieg unliebsame Details der eigenen Motive, die mit zum Krieg führten, und Handlungen, die den Sieger in einem wenig schmeichelhaften Licht erscheinen lassen würden, unter den Tisch fallen lassen oder von Historikern und Politikern der siegreichen Partei schön gefärbt werden. Ein leicht nachvollziehbares Beispiel ist das folgende: Hätte Hitler-Deutschland den Krieg im Großen und Ganzen zu seinem Vorteil entschieden, würde heutzutage selbstverständlich nicht jeden Abend über die Gräueltaten des Nazi-Regimes in Fernseh-Dokumentationen berichtet werden und Adolf (der Große) als der größte Staatsmann überhaupt gepriesen, gleich nach Alexander dem Großen und Karl dem Großen.
Ich will mit diesem Punkt aber nicht darauf hinaus, was das für die politische Entwicklung des Verlierers von zwei Weltkriegen bedeutet, sondern auf etwas anderes. Denn es gibt weitere Gründe, warum die offizielle Geschichtsschreibung generell nur selten an eine objektive Darstellung der Geschichte heranreichen kann.
Als Beispiel sei die Aufarbeitung der Ursachen des 1. Weltkriegs durch Historiker genannt. Es wurden im Verlauf der vergangenen einhundert Jahre buchstäblich hunderte von Büchern und ebenso viele Abhandlungen über die Ursachen, Urheber, Hintergründe des 1. Weltkriegs und insbesondere die Schuldfrage veröffentlicht. Was fanden die Historiker heraus, selbst diejenigen, die sich Jahrzehnte später um wirklich objektive Geschichtsfindung bemühten und nicht vordergründig ersichtlich parteiisch schrieben? Als Ergebnis von einhundert Jahren Geschichtsschreibung lässt sich nur eines sagen: dass um die Schuldfrage nach wie vor gerungen wird. Es gibt keine klare Antwort, sondern viele Interpretationen, je nachdem aus welcher Perspektive und aufgrund von welchen Informationen oder Interpretationen der Geschichte ausgegangen wird. Mehr zum Thema, s. 1850 - 1917 Preußen, England, Russland, etc. oder Der “Ausbruch” des 1. Weltkriegs.
Historiker beschäftigen sich mit kürzeren oder längeren geschichtlichen Zeiträumen, wobei ihr Augenmerk in der Regel auf bestimmten Themen und Schwerpunkten liegt, oder der Versuch unternommen wird, bereits vorab formulierte Thesen herauszuarbeiten (oder zu widerlegen) und Daten entsprechend zu interpretieren. All dieses ist wiederum abhängig von den Informationen, Daten, dem sozialen Umfeld, bzw. den Rahmenbedingungen und persönlichen Interpretationen, zu denen Historiker (oder Wissenschaftler) aufgrund des Studiums von Drittquellen gelangen. Was, ebenso wie die eigentliche Fragestellung der Untersuchung, selbstverständlich auch Einfluss auf die letztendliche Interpretation der Geschichte hat.
Überlegungen wie diese führen zu der Schlussfolgerung, dass absolute Objektivität nach menschlichem Ermessen eine Unmöglichkeit darstellt. Selbst eine allmächtige Schöpferentität würde wahrscheinlich Schwierigkeiten damit haben, die eigene Schöpfung zu kritisieren, möchte ich überspitzt formulieren.
2) Vom “Denkkollektiv” und geistigen Landkarten
Ludwig Fleck erkannte, dass eine Art geistiger Begrenzung auch für wissenschaftliche Theorien Gültigkeit hat. Er schrieb:
“Vor der Theorie steht in 99% der Fälle das Denk-Kollektiv.”
Denn Wissenschaftler leben, studieren und lehren nicht im luftleeren Raum, sondern sie nehmen Wissen im Rahmen einer bestimmten, weitgehendst akzeptierten Lehre auf.
Das Denkkollektiv erscheint somit als geschlossenes System, innerhalb dessen Widerspruch undenkbar scheint. Unpassendes ignoriert, verschwiegen oder uminterpretiert wird. Sachverhalte den eigenen Anschauungen entsprechend gesehen und beschrieben werden. [Das Denkkollektiv] verfolgt einen Denkstil, der „nicht nur diese oder jene Färbung der Begriffe und diese oder jene Art sie zu verbinden“ vorgibt. Es geht um einen bestimmten Denkzwang und noch mehr:
„die Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln. Die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Tatsache vom Denkstil ist evident“.
Nichts anderes gilt aber sowohl für Historiker als auch für den Journalismus, insbesondere den Haltungsjournalismus, wie er von gewissen einflussreichen Medien gepflegt wird. So etwas wie objektiven Journalismus gibt es aber, wie man es auch nimmt, nicht,(1) und zwar aufgrund derselben Faktoren, die auch in Bezug auf die Historikerzunft Gültigkeit haben. Walter Lippmann schrieb:
“Um die Welt zu durchwandern, müssen die Menschen Karten von dieser Welt haben. Ihre beständige Schwierigkeit besteht darin, dass sie sich diese Karten beschaffen müssen, die nicht bereits durch ihre eigenen Bedürfnisse oder die Bedürfnisse irgendeines anderen verfälscht worden sind.”
Lippmann vergleicht diese interaktive Erstellung der “Karten” mit einem Theaterstück, “zu dem die Schauspieler durch ihre eigene Erfahrung angeregt werden und in dem die Handlung nicht nur Auswirkungen auf deren Bühnenrollen, sondern auch auf das reale Leben der Schauspieler hat.” (S. 65 f.) Kurz gesagt, ein größeres oder kleineres Maß an Objektivität hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt von der eigenen Voreingenommenheit oder den voreingenommenen bis subjektiv interpretierbaren Informationen, die einen erreichen. Dies gilt für Historiker ebenso wie für andere Wissenschaftler oder eben Journalisten.
“Wahrheit” und “Nachrichten”
Dennoch werden Informationen, die über die Medien an uns herangetragen werden, häufig so rezipiert, als handelte es sich bei den Informationen um unumstößliche Fakten oder Wahrheiten. Mit gravierenden Folgen für den Einzelnen und “die Öffentliche Meinung”, und mit Auswirkungen auf alle Bereiche von Gesellschaft und Politik, welche die meisten Menschen nicht abzuschätzen vermögen. Walter Lippmann wendet in seinem Buch einige Mühe auf, den Begriff “Nachrichten” zu analysieren, und kommt zu dem Schluss:
“Die mir am fruchtbarsten erscheinende Hypothese besagt, dass Nachrichten und Wahrheit nicht dasselbe sind und klar voneinander geschieden werden müssen.”
Zwei Begriffe werden hier einander gegenübergestellt: “Nachrichten” und “Wahrheit”. Beide Wörter haben jedoch eines gemeinsam: Für sich allein genommen sind sie ohne Bedeutung. Sie müssen erst mit Inhalt gefüllt werden, um dann auf den Nachrichtengehalt oder den Wahrheitsgehalt abgewogen und eingeschätzt werden zu können. Hinzu kommt:
“Es gibt keine Sicherheit, dass ein und das selbe Wort im Kopf des Lesers genau dieselbe Vorstellung hervorrufen wird wie im Kopf des Reporters.” (S. 101)
Wörter rufen Bilder hervor, Assoziationen und Gedankenketten, und doch gleicht Sprache, nach Jean Paul, “einem Wörterbuch der verblichenen Metaphern”. Wie also sollte guter Journalismus bzw. Wissenschaft oder Geschichtsschreibung beschaffen sein, wenn doch das Ziel der Objektivität unerreichbar bleiben muss?
3) Pro und Contra - Säulen des Journalismus
Als ich im jugendlichen Alter von 17 Jahren ca. 1 Jahr lang als freier Mitarbeiter bei der lokalen Zeitung in einem winzigen Städtchen in Südbaden arbeitete, gab mir der Redakteur folgende Worte mit auf den Weg: „Es geht beim Journalismus darum, stets beide Seiten anzuhören.“ Diesen Ratschlag habe ich nie vergessen, auch wenn bei meiner damaligen Tätigkeit kaum Bedarf bestand, diesen in die Tat umzusetzen. In der Kleinstadt mit gerade einmal 8000 Einwohnern (inkl. Eingemeindung) passierte Mitte der 70er-Jahre einfach nichts, das auf lokaler Ebene Konfrontationen hervorgerufen hätte, und das Anhören von zwei Seiten erforderlich gemacht hätte. Mit das spannendste Thema damals war die Diskussion um den Bau einer Umgehungsstraße, welche die „Öffentlichkeit“ tatsächlich ein wenig in Wallung brachte, aber darüber hat natürlich der Chef berichtet, und nicht ich. Dennoch beschreiben seine klugen Worte nach wie vor eine der Säulen guten Journalismus. Der zwar nicht objektiv oder perfekt sein kann, aber wenigstens besser, als das, was uns heutzutage als Journalismus verkauft und auch noch gekauft wird, selbst wenn dies nur im übertragenen Sinne Gültigkeit haben mag.
Meiner Meinung nach sollte jeder Journalist, jeder Experte und natürlich jeder Politiker, Menschen also, die sich mit ihren Aussagen an die Öffentlichkeit wenden, nicht nur den eigenen Lebenslauf leicht zugänglich zur Verfügung stellen, sondern insbesondere öffentlich machen, aus welchen Quellen diese Personen Geld beziehen oder bezogen haben, welcher Partei und welcher Ideologie sie anhängen, kurz gesagt, welche Interessenkonflikte einer objektiven und abgewogenen Informationsweiterleitung im Wege stehen könnten. Diese Daten sollten jedem Artikel und jeder Information, welche über die Medienkanäle verbreitet werden, leicht zugänglich zur Seite gestellt werden.
Nicht weil ich einem unheilbaren Drang zur Selbstdarstellung unterliege, schreibe ich somit die nachfolgenden Worte, sondern um mit gutem Beispiel voranzugehen, weshalb ich ich an dieser Stelle versichern kann, dass ich keiner Partei angehöre, kein Geld beziehe (das ist beinahe wörtlich gemeint) und keiner Ideologie anhänge, für die es einen Namen gäbe – nicht links, rechts, nicht Mitte oder Außen, weder grün, gelb, rot oder sonst einer Farbe ergeben bin, und ich bin auch nicht grundsätzlich national, international oder global orientiert.
Darf ich erwähnen, dass die Farbe Blau noch frei zu sein scheint? Vielleicht könnte ich ja ein Anhänger der “Blauen” werden?
Als ich mit dem Schreiben meines ersten Buches schwanger ging, war ich noch vergleichsweise naiv, mir aber meiner eigenen Unzulänglichkeiten und meines lückenhaften Wissens überaus bewusst, weshalb ich eine Art dritten Weg wählte. Da es nicht praktikabel war, zu der großen Palette verschiedener Themen, die im Buch behandelt werden sollten, eine ebenso große Menge von Expertenmeinungen einzuholen, offenbarte ich dem Leser gleich in den ersten Kapiteln meine Unwissenheit und machte diese geradezu zu meinem Thema. Nach dem Motto: “Wenn Sie in diesem Buch auf der Suche nach der Wahrheit sind, dann bitte ich Sie in Ihrem eigenen Interesse, zu einem Duden zu greifen.”
Lies Alles, Vertraue Niemandem (nach William Cooper)
Ich las so viel wie ich gerade zu einem Thema verkraften konnte, und versuchte unter gleichzeitiger Berücksichtigung meines begrenzten Wissens wenigstens gedanklich alternative Theorien oder Ansichten - die andere Seite - in Erwägung zu ziehen. Weiterhin versuchte ich den potentiellen Lesern meines Buches zu vermitteln, wie ich zu dieser oder jener Schlussfolgerung gelangte und auf welchen Informationen bzw. Quellen diese beruhten.
Viele Jahre des Studiums verschiedener Aspekte der jüngeren und älteren Historie - Religionsgeschichte, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, politische Geschichte, Wirtschaftsgeschichte – folgten auf jenen ersten Versuch die Welt zu erklären, wobei so manches, das ich bei meinen ersten Gehversuchen in Sachen Schreiberei erkannte, heute erstaunlicherweise genauso aktuell ist wie damals.
Der Zweck dieser einleitenden Worte bestand weiterhin darin, die Leserschaft einerseits darauf aufmerksam zu machen, dass der Autor selbst gewissen Mechanismen unterliegt, welche einer wahrhaften Objektivität im Wege stehen, sodass die nachfolgenden Informationen selbstverständlich kritisch aufgenommen werden sollten.
Andererseits wurde damit das Grundthema umrissen: Es geht um die sogenannte Öffentliche Meinung, und um Mechanismen, wie diese angebliche Öffentliche Meinung zu politischen Zwecken manipuliert und missbraucht wird, mittels Mechanismen, welche den meisten Menschen offenbar nicht zu Bewusstsein gelangen. Solange diese Mechanismen - wie die Menschen funktionieren und wie sie beeinflusst werden - aber nicht einmal ansatzweise einer größeren Anzahl von Menschen bewusst werden, ist jede Hoffnung auf eine gerechtere und friedlichere Welt vergebens.
Auf halbem Weg zur Fertigstellung dieses längeren Textes fiel mir überdies ein, dass ich mich, wenigstens einmal :), auf eine bestimmte Fragestellung beschränken sollte. Es ist das WIE die Manipulation von Menschen, Regierungen, Gesetzesgebern und der Öffentlichen Meinung vor sich geht, der Artikel dreht sich also mehr um das Prinzip sowie Mechanismen und weniger um Konkretes oder einen ausdrücklichen Bezug zur Gegenwart. Gleichwohl ich hie und da nicht umhin gekommen bin, Parallelen anzusprechen, z.B. zwischen einer Zeit vor über 100 Jahren und dem Hier und Jetzt.
Die Fragen nach dem WER, WIESO und eine genauere Untersuchung der Frage, WELCHE IDEOLOGIE mit in diesen Themenkomplex hineinspielt, sowie der Einfluss einiger der Big Player wird in Folgeartikeln (in denen es mitunter um die ersten von Industriellen gegründeten philanthropischen Stiftungen geht) beispielhaft untersucht werden.
4) Reset - damals …
Im Jahre 1914 lebten ein paar Engländer zusammen mit Franzosen und Deutschen auf einer Insel inmitten des Meeres. Kein Funkspruch erreichte dieses Eiland, und der britische Postdampfer legte nur alle zwei Monate einmal hier an. Der war im im September 1914 noch nicht eingetroffen, und die Inselbewohner unterhielten sich entsprechend der letzten aktuellen “Nachrichten” oder “News” aus Europa noch über die letzte Zeitung, in der von dem bevorstehenden Prozess gegen Madame Caillaux berichtet wurde, die Gaston Calmette erschossen hatte. Die ganze Kolonie versammelte sich daher an einem Tag Mitte September mit mehr als gewöhnlichem Interesse am Landesteg, um gleich vom Kapitän zu erfahren, wie nun das Urteil im Gerichtsprozess ausgefallen sei. Sie erfuhren stattdessen, dass ihre englischen und französischen Landsleute bereits seit mehr als sechs Wochen gegen die Landsleute der Deutschen kämpften. Sechs merkwürdige Wochen gingen die Inselinsassen in der Annahme, noch Freunde zu sein, während sie tatsächlich bereits Feinde waren.(2, s. Quellen am Ende des Artikels)
Dies sind die einleitenden Worte Walter Lippmanns in seinem Buch „Die Öffentliche Meinung“ dessen erstes Kapitel die Überschrift trägt: „Die äußere Welt und die Bilder in unseren Köpfen“. Die faszinierende Geschichte gleicht zwar mehr einer Parabel, und ob es diese Insel tatsächlich gab, ist unsicher, Tatsache ist jedoch, dass es für jeden Menschen innerhalb der kriegsführenden Nationen, Allianzen und Blöcke eine Zeitspanne gab, in der er sich noch einer Umgebung anpasste, die in (einer anderen) Wirklichkeit so gar nicht mehr existierte.
Bis zum 25. Juli 1914 produzierten die Menschen überall in der Welt Waren, die sie gar nicht mehr versenden konnten, sie kauften Waren, die sie gar nicht mehr zu importieren vermochten, sie planten Karrieren und Unternehmungen, und sie unterhielten Hoffnungen und Erwartungen im Glauben, dass die ihnen bekannte Welt die reale Welt sei. Manche Menschen beschrieben diese Welt in Büchern. Sie vertrauten dem Bild in ihren Köpfen. (2, S. 56)
Vier Jahre später war es dann in gewisser Weise umgekehrt. Als sich die Nachricht vom Waffenstillstand verbreitete, jubilierten die Menschen in der Heimat und gaben ihrer unaussprechlichen Freude über die Beendigung des Gemetzels Ausdruck. Doch zu diesem Zeitpunkt, an dem schon das Ende des Krieges gefeiert wurde, starben auf den Schlachtfeldern noch weitere fünf Tage lang tausende junge Menschen.
In der Rückschau gesehen, ist heute natürlich mehr als klar, dass es nach diesem verheerenden Krieg nie wieder so werden würde wie zuvor.
… im Vergleich zum Reset 2020
Manche Menschen werden es für übertrieben halten, wenn ich nun einen Vergleich ziehe zwischen der Situation unmittelbar vor Beginn des 1. Weltkriegs, die Lippmann beschreibt, und einem Tag im März 2020. Anderen werden die Parallelen vielleicht ins Auge stechen. In einem Artikel vom März 2020, den ich „Der Corona-Coup“ nannte, beschrieb ich meine Eindrücke wie folgt:
“Stellen Sie sich nun mit mir vor: Angenommen Sie wären ungefähr 2 Monate auf Überlebenstour in irgendeiner abgelegenen Gegend in Europa gewesen, jedenfalls – kein Radio, kein Fernseh, kein Internet, nix – und Sie kommen nun wieder zurück in die Zivilisation. Und nun versuchen sie Toilettenpapier zu kaufen.
"Erstaunt ob der gedämpften Stimmung – kein Radiogedudel – kommen Sie in einen Supermarkt, kaufen sich vielleicht ein paar Bananen, Äpfel oder sonstige Früchte nach der Abstinenz, und wollen dann MEHL kaufen. Sie werden kein Mehl finden, kein Klopapier und auch einige Dosen sind knapp geworden. Sie werden an der Kasse Zeuge, wie eine Dame zwei Packungen des letzten Klopapiers kaufen wollte, und beschieden wurde, dass dies nicht möglich wäre. Die Dame war nicht bereit dies sofort hinzunehmen, reklamierte: „Ja dann geh‘ ich eben ein zweites Mal durch die Kasse“, und die Verkäuferin erklärte, dass das auf keinen Fall ginge.
Spätestens jetzt wird der Einsiedler verstehen, dass hier etwas abläuft, von dem er keine Ahnung hatte … In einer anderen, von Augenzeugen geschildertern Szene, greift ein älterer, nicht mehr ganz rüstiger Herr nach einer Tüte Mehl – nur um zu spät zu kommen, weil jemand die begehrte Ware ganz schnell für sich reklamierte! Die Tünche der Zivilisation ist noch dünner als angenommen, ungefähr 3 oder 4 Lagen Klopapier dick.
Zwar bin ich nicht wirklich ein Einsiedler, siehe Hinweis auf eine sporadisch besuchte Stammkneipe, andererseits erinnerte mich die Situation komischerweise an einen Tag Ende April 1978, als ich mich nichtsahnend morgens um 5 Uhr in einen Bus setzte, um abends um 10 Uhr inmitten einer Revolution, oder wie immer man das auch nennen mochte, zu landen. Das war allerdings in Afghanistan.
Zu dieser Zeit gab es auch noch die DDR. Und von der wußte ich, wie jeder andere, dass dort immer mal wieder Waren knapp wurden, und lange Schlangen vor den Läden zu verzeichnen waren, nur um dann doch keine Banane zu bekommen. Neuerdings war das anders, Bananen zu kaufen ist überhaupt kein Problem, auch Feigen, Ananas und weniger exotische Früchte, wie Tomaten und Sellerie zu erhalten, ist keine Sache. Ich vergaß, dass die Kühltheke und das Tiefkühlregal gut bestückt sind, Fleisch und Wein überreichlich vorhanden. Es fehlt auch nicht an Käse, Wurst, Schinken, Salami, Lachs, Pizza, Butter usw. Lachen müsste man über die Geschichte, wenn nicht die Sache mit dem Klopapier wäre. Ein Mangel desselben geht praktisch ans Eingemachte.
Hier werden die Fronten deutlich. Es geht um nicht weniger als den Erhalt der Zivilisation, und diese kann nur erhalten werden, indem das kostbare Klopapier völlig unzivilisatorisch an sich gerafft wird … Zwar ist es nicht gerade so, als würden die Klopapierfabrikanten bereits morgen die Produktion einstellen, aber sicher ist sicher.
Wie sicher sind wir vor diesem Monster-Todesvirus, an dem schon ungefähr (geschätzt) 200 Leute starben?”
Es war im März 2020 für mich tatsächlich ein wenig so, wie es für die Menschen auf der von Lippmann beschriebenen Insel kurz nach Ausbruch des 1. Weltkriegs gewesen sein muss. Ich hatte es zu dieser Zeit bereits aufgegeben, irgendetwas Sinnvolles aus den Medien erfahren zu wollen, und arbeitete mit Volldampf und voller Optimismus an einem neuen Buch. Meine Zukunftsplanung enthielt keine Hinweise auf die sich gerade entfaltende „Gesundheitskrise“ und in ihr war auch kein Platz für einen Internationalen Lockdown, etc. Ebenso wie damals, nach dem 1. Weltkrieg, wird natürlich auch nach dem Abebben der Corona-Hysterie nie mehr alles so wie früher sein.
Die Parallelen sollten deutlich genug sein. Es brach im März 2020 zwar kein vollwertiger (mit konventionellen Waffen geführter) Krieg wie Ende Juli 1914 aus, dennoch war das Leben der Menschen von einem Moment auf den anderen auf einmal wie umgekrempelt. Niemand unter den Normalbürgern wusste zu einem Zeitpunkt X im März 2020, dass das öffentliche Leben von einem Moment auf den anderen zum Erliegen kommen würde und kleine Geschäfte schließen mussten; dass ein zweiwöchiger Lockdown verhängt werden konnte, der sich dann ewig hinzog und nie aus dem Bewusstsein verschwand; dass es obligatorisch werden würde, Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln, Ämtern und Supermärkten vor dem Gesicht zu tragen, weil die Alten in den Altenheimen sonst (angeblich) dahin sterben würden; dass sich die Regierungen weltweit diktatorisch anmutende Vollmachten anmaßen würden, und dass es dazu kommen würde, dass Menschen zu einer Impfung genötigt werden würden, die erstens experimentell, und zweitens, nach der alten Definition, noch nicht einmal eine solche war.
Niemand konnte auch ahnen, dass im Verlauf der nächsten Jahre Familien und Freunde gespalten werden würden, dass Menschen andere Menschen plötzlich als Feinde ansahen, weil sie vielleicht nicht allgegenwärtig eine Maske trugen oder weil sie nicht „geimpft“ waren und sich auch noch gegen die Theorie und die Maßnahmen stellten, oder dass der von den Christen so sehr geliebte Nächste fortan einfach grundsätzlich als Gefahrenquelle eingestuft werden würde, weil „Asymptomatische“ ja so gefährlich waren; und dass es noch nicht einmal erlaubt sein würde, gegen die Maßnahmen friedlich zu protestieren. Das Alles wurde 2020 Realität, weil ebenso wie im Jahr 1914 Leute Entscheidungen getroffen hatten, von denen man manchmal noch nicht einmal etwas gehört hatte. Und weil Medien und Politiker weltweit wie auf Knopfdruck völlig gleichgeschaltet waren.
5) Die „Öffentliche Meinung“ und die Macht abstrakter Ideen
„Die Macht abstrakter Ideen beruht in hohem Maße auf eben der Tatsache, dass sie nicht bewusst als Theorien aufgefasst, sondern von den meisten Menschen als unmittelbar einleuchtende Wahrheiten angesehen werden, die als stillschweigend angenommene Voraussetzungen fungieren.“ (Hayek 1980, S. 100)
Erst im Nachhinein lässt sich allenfalls erkennen, „auf welche indirekte Weise wir die Umwelt betrachten“, schreibt Lippmann (1922). „Wir können beobachten, dass eine Information einmal schnell, ein andermal langsam zu uns gelangt; was auch immer wir für ein echtes Abbild halten, wir behandeln es wie die Umwelt selbst. Es ist noch schwieriger, dies auch auf die Vorstellungen zu übertragen, aus denen heraus wir handeln, aber im Hinblick auf andere Völker und andere Zeiten schmeicheln wir uns mit der Feststellung, dass es leicht sei, den tödlichen Ernst in ihren absurden Vorstellungen, die sie sich von der Welt machten, zu erkennen. Im Nachhinein müssen wir von einer höheren Einsicht aus bemerken, dass die Welt, wie die Menschen hätten erkennen müssen, und die Welt, wie sie sie tatsächlich sahen, oft einander völlig widersprechen. (2, S. 56)
In der Krise 2020 zeigte sich in aller Schärfe, dass sich die meisten Menschen blind auf „die Wissenschaft“ verlassen, oder auf das, was heutzutage darunter verstanden wird. Passend zur Pseudoumwelt Lippmanns (s.u.) gesellt sich im 21. Jahrhundert die Pseudo-Wissenschaft. Als ob „Der Wissenschaft“ noch nie in der Geschichte der Menschheit etwa ein Fehler unterlaufen wäre. Ebenso verließen sie sich auf die Aussagen von Politikern und Medien, als ob es noch nie auf der ganzen Welt vorgekommen wäre, dass ein Politiker gelogen oder ein Journalist Unsinn verzapft hätte.
Leben in der Pseudo-Welt
Die Welt, wie wir sie sehen, wird über Schulen, Universitäten, Politiker und Medien an uns herangetragen, und gewissermaßen in unser Bewusstsein injiziert. Dass der Politik und den Medien in einer kritischen Situation so viele Menschen auf den Leim gingen, konnte nur passieren, weil abweichende Stimmen schlichtweg zensiert, gemobbt, unglaubwürdig gemacht wurden, weil die Medien weltweit unisono die gleiche Nachricht von der tödlichen Gefahr verkündeten, und weil somit der Eindruck erweckt wurde, dass irgendein wissenschaftlicher Konsens bestehe, welche die politischen Maßnahmen für den Bürger sinnvoll und gerechtfertigt erscheinen ließen.
Nach Lippmann ist es „völlig klar, dass Menschen unter gewissen Bedingungen auf Fiktionen ebenso stark reagieren wie auf Wirklichkeiten und dass sie in vielen Fällen erst die Fiktionen schaffen helfen, auf die sie eingehen.“ (2, S. 64) Um den Mechanismus zu erklären, wie es möglich ist, dass Menschen auf Informationen reagieren, die keine wirkliche Substanz haben, führt Lippmann den Begriff „Pseudoumwelt“ ein, welche ein gemeinsames Element darstelle beim Wahrnehmungsprozesses des Menschen und wie er seine Umwelt interpretiert. Das Verhalten des Menschen sei die Reaktion auf diese Pseudoumwelt, die praktisch das Bindeglied zwischen Mensch und Umwelt ist.
Das eigene Verhalten begründet sich nach Lippmann aus der Pseudoumwelt, ist jedoch nicht identisch mit den in der realen Umwelt ausgeführten Handlungen und Interaktionen.
“Ist das Verhalten nicht eine konkrete Handlung, sondern das, was wir grob Gedanken und Empfindungen nennen, so kann es lange dauern, bis im Gewebe der Phantasiewelt ein Riss erkennbar wird. Wenn jedoch der Anreiz der Pseudo-Tatsache zu Handlungen führt, die auf Dinge oder andere Personen einwirken, erhebt sich bald Widerspruch. Dann nimmt der Kopf wahr, dass er gegen eine Mauer stößt, dass er aus Erfahrung lernt, und erlebt an Herbert Spencers Tragödie von der Ermordung einer schönen Theorie durch eine Bande brutaler Fakten den Schmerz der Fehlanpassung.“ (2, S. 64)
Diesen Satz muss ich unbedingt in meine Sammlung von Zitaten aufnehmen.
6) Die Anpassung des Menschen an eine “Reihe von Fiktionen”
“Zweifellos”, so Lippmanns Auffassung, “erfolgt die Anpassung des Menschen an seine Umwelt auf der Ebene gesellschaftlichen Lebens durch das Medium der Fiktionen”, wobei unter „Fiktionen“ nicht etwa Lügen zu verstehen seien, sondern „ein Bild der Umwelt, wie es sich der Mensch mehr oder weniger selbst schafft.“
„Die Reihe der Fiktionen“, wie sie von Lippmann dargelegt wird, „beginnt bei der vollkommenen Halluzination und endet bei der völlig bewussten Anwendung eines schematischen Modells durch den Wissenschaftler oder bei dessen Folgerung, dass für sein besonderes Problem jenseits einer bestimmten Anzahl von Dezimalstellen Genauigkeit unwichtig ist.“ (S. 65)
Lippmann vertritt die Auffassung, dass sich auch der Wissenschaftler einer Pseudoumwelt bedient, schwächt die Aussage jedoch im nächsten Satz wie folgt ab: “Ein fiktives Werk kann fast jeden Grad der Wirklichkeitstreue aufweisen, und solange man überhaupt den Grad der Wirklichkeitstreue rechnerisch bestimmen kann, führt die Fiktion nicht in die Irre.”
Doch ist das Beispiel etwas unglücklich gewählt. Denn eine Nachkommastelle hier gepaart mit einer nur teilweise richtigen Annahme dort, können in einer Computersimulation oder Berechnung sehr wohl einen gravierenden Unterschied ausmachen, wie ja beispielsweise die katastrophalen Modelle der Ausbreitung der „Viren“, die in Zusammenhang mit Corona von verschiedensten Experten erstellt wurden, oder die Klimamodelle deutlich machen, nach den die Eiskappen schon längst Vergangenheit sein müssten, oder die Berechnungen, nach denen eigentlich schon um das Jahr 2000 herum das Ende der Menschheit wegen Überbevölkerung gekommen sein musste.
Graduelle Fiktionen in unserer komplexen Welt führen zu Simplifizierung
Natürlich wollte Lippmann mit dem Beispiel nur auf die graduellen Unterschiede von Fiktionen aufmerksam machen, wobei er unwissentlich belegt hat, dass niemand frei von diesen Fiktionen ist. Nicht Lippmann, und auch Sie nicht und ich gleich gar nicht. Alternativen gibt es außer dem Auf und Ab der Sinneswahrnehmungen nicht, „denn so erfrischend es von Zeit zu Zeit mit völlig unschuldigem Auge in die Welt zu blicken, so ist doch Unschuld selbst keine Weisheit, wenngleich eine Quelle und ein Korrektiv der Weisheit.“ (2, S. 65)
Was jedem selbstkritischem Schreiber oder Philosophen, der die Welt erklären will, schließlich auffällt, beschreibt auch Lippmann im nächsten Satz:
„Denn die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfasst zu werden. Wir sind nicht dafür ausgerüstet, es mit so viel Subtilität, mit so großer Vielfalt, mit so vielen Verwandlungen und Kombinationen aufnehmen zu können.Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen, müssen wir sie erst in einem einfacheren Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können. Um die Welt zu durchwandern, müssen die Menschen Karten von dieser Welt haben. Ihre beständige Schwierigkeit besteht darin, dass sie sich Karten beschaffen müssen, die nicht bereits durch ihre eigenen Bedürfnisse oder die Bedürfnisse irgendeines anderen verfälscht worden sind.“ (2, S. 65)
Wenn wir die Überlegungen Lippmanns zur Funktion einer Pseudoumwelt bei der Interaktion von Bewusstsein und Wirklichkeit für den Augenblick als eine unseren Zwecken dienliche Landkarte des Geistes annehmen, lässt sich daraus vielleicht noch etwas anderes ableiten. Wenn unsere innere fiktive Welt beständig durch äußere Signale bestätigt wird, und das von dieser inneren fiktiven Welt beeinflusste, nach außen gerichtete Verhalten nicht in Konfrontation mit der Umwelt gerät, bzw. durch “eine Bande brutaler Fakten gemeuchelt” wird, dann kann dieser Mechanismus exakt zu jener Art von Massenhalluzination führen, welche wir in den vergangenen Jahren erlebten: Die äußeren Signale und ihre Wirkung auf die Pseudo-Umwelt wurden durch die über die Medien übertragene Propaganda verstärkt.
Statisch oder interaktiv - das Theater des Lebens
Lippmann schreibt: „[...] diese Fiktionen bestimmen einen großen Teil des politischen Verhaltens der Menschen“. Und:
„Es ist wie ein Theaterstück, zu dem die Schauspieler durch ihre eigene Erfahrung angeregt werden und in dem die Handlung nicht nur Auswirkungen auf deren Bühnenrollen, sondern auch auf das reale Leben der Schauspieler hat.“ (2, S. 65f.)
Wie es im ach so fortgeschrittenen und gebildeten 21. Jahrhundert zur praktisch globalen Gleichschaltung kommen konnte, (im Gegensatz zur Gleichschaltung in verschiedenen politischen Systemen des 20. Jahrhunderts oder noch früherer Zeiten) welche sich offensichtlich quer durch alle Gesellschaftsschichten zieht, welche Mechanismen und Akteure an dieser Entwicklung beteiligt sind und was die Öffentliche Meinung damit zu tun hat, wird das Thema weiterer Kapitel sein oder in Artikeln auf matrix169.wordpress.com untersucht.
Klar ist, dass das, was letztendlich unter „Öffentlicher Meinung“ verstanden wird, das Ergebnis einer gemeinsamen Teilmenge eines bestimmten Faktors verschiedener Pseudoumwelten einer nicht ganz kleinen Anzahl von Menschen ist, welche vielleicht sogar die Mehrheit innerhalb einer Bevölkerungsgruppe darstellen.
Wird fortgesetzt …
Weitere Quellen und Links
Walter Lippmann, Die Öffentliche Meinung, Westend Verlag 2018
1850 - 1917 Preussen, England, Russland, etc.
Der “Ausbruch” des 1. Weltkriegs
Die Fälschung der Welt - Der Tag an dem unser Bewußtsein entführt wurde