Über die Wirren der Weimarer Zeit 1919 -1923 und Hitlers Aufstieg (Teil II)
Dezember 1918 - Die Thule-Gesellschaft wird politisch aktiv
Ich ergreife die Gelegenheit, die Eugenik-Geschichte zu unterbrechen, denn im nächsten Kapitel der (Rockefeller)-Eugenic Files wird es auch um die 1921 in New York stattfindende Eugenik-Konferenz (und weitere Konferenzen) gehen. Zu einer Zeit, als es in München und im Rest deutscher Lande ziemlich desolat einherging. Dennoch fanden aber anscheinend Leute wie Lenz und Fischer die Zeit, gewichtige Werke bezüglich Vererbung und Eugenik zu schreiben. Ein anspruchsvolles Projekt, an diesem Punkt angelangt, wäre es, die Querverbindungen und Synchronismen zwischen deutscher und anglo-amerikanischer Literatur aufzuzeigen oder mehr darüber herauszufinden, in wie weit Hitler im Lauf der Jahre eigenes Wissen über Eugenik oder Vererbungslehre erworben hat oder nicht hat, oder ob es eher “Wissen” aus dritter Hand war. Leider liegt so ein Projekt momentan außerhalb meiner Möglichkeiten. Rekapitulieren wir anstatt dessen kurz andere Aspekte der deutschen bzw. hauptsächlich in München stattfindenden Vorgeschichte bis hierhin.
In der Nacht vom 7./8. November hatte Eisner seinen Putsch in München durchgezogen, am 9. verkündete Max von Baden ohne Einwilligung des Kaisers Wilhelm II. dessen Rücktritt, weil insbesondere von den Amerikanern angedeutet wurde, dies sei eine Bedingung für die kommenden Friedensverhandlungen, woraufhin am 10. November sowohl Karl Liebknecht, Pazifist und Kommunist als auch Philipp Scheidemann, SPD, in Berlin die Republik verkünden, allerdings nicht gemeinsam. Eine Koalition von SPD und USPD wird gebildet, scheitert aber schon bald. Chaos bricht aus. Hitler traf aus Pommern über Berlin kommend am 21. November 1918 in München ein. Auf das Spektakel, das ihm bei seiner kurzen Durchreise durch Berlin begegnete, dürfte Hitler wohl nicht vorbereitet gewesen sein.
Zwei Wochen nach seinem Eintreffen in München wird Hitler nach Traunstein versetzt, wobei die genauen Recherchen von Thomas Weber (und weiteren Autoren) darauf hindeuten, dass Hitler nicht etwa um Versetzung gebeten hat, weil er “es nicht ausgehalten” habe in München unter dem Eisner, sondern dass er mit anderen Genesenden zu einem ruhigen Pöstchen zwecks Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Traunstein abgeordnet wurde.
Laut seinen eigenen Aussagen in “Mein Kampf” kehrte Hitler erst “irgendwann im März” zurück nach München, die Recherchen ergaben indes, dass dies wohl eine Schutzbehauptung war, um zu verschweigen, dass Hitler während der Räterepubliken als Soldat dem (angeblich verhassten) Regime diente - obgleich er jede Möglichkeit gehabt hätte, aus dem Dienst auszuscheiden. Seine Einheit hieß nicht umsonst “Demobilisierungsbataillon”.
Eisner hatte unmittelbar nach der Umsturznacht vom 7./8. November 1918 die Konstituierung provisorischer Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte veranlasst. Nach seiner Ermordung am 21. Februar 1919 und dem Anschlag auf den SPD-Vorsitzenden Erhard Auer (1874 - 1945) ging die politische Initiative einigermaßen unerwartet wieder an die Räte über, die zwischenzeitlich begonnen hatten, sich zu radikalisieren.
Die Achse München-Berlin-Moskau
Angesprochen wurde in Teil 1 auch, dass sich die Thule-Gesellschaft unter Rudolf Sebottendorff nach der Eisner-Revolution ernsthaft daran machte, den Widerstand gegen die linke provisorische Regierung zu organisieren, indem beispielsweise ein “Kampfbund” gegründet wurde. Nachfolgend will ich versuchen, einige der Schlüsselpersonen der Thule-Gesellschaft und aus deren Umfeld mit der Geschichte zu verknüpfen, die Anfang Mai in der Eroberung Münchens durch Regierungstruppen und Freikorps endete. Das Hauptaugenmerk wird sich dabei zunächst auf den erwähnten Rudolf Sebottendorff sowie auf Dietrich Eckart richten. Letzterer war entgegen den Aussagen etlicher Okkult-Autoren nicht Mitglied der Thule-Gesellschaft, hatte aber zweifellos einen nicht geringen Einfluss auf Hitler und ist im Umfeld der Gesellschaft zu verorten.
Die Recherchen zwangen mich indes dazu, noch einmal einen Blick auf die konfliktbeladenen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland zu werfen. Der Vertrag von Brest-Litowsk war weder hier noch dort unumstritten, was nicht nur zu tiefen Gräben innerhalb der beiden Länder führte, sondern auch zu Koalitionen, die über die jeweiligen Landesgrenzen hinausgingen. Die überproportionale Rolle, die weißrussische Agitatoren zu Beginn der Weimarer Republik besonders in Berlin und München spielten, wird erst durch diese Facette der Geschichte verständlicher. Einer jener Männer, welche die Russische Revolution nach Bayern spülte, war natürlich Alfred Rosenberg, ebenfalls im Umfeld der Thule-Gesellschaft zu verorten, der eine Zeit lang beträchtlichen Einfluss auf die Ideologiebildung Hitlers und der NSDAP ausübte.
Die bezahlte Revolution und der Zimmermann-Effekt
Noch im März 1917 war Lenin, Sinnbild all dessen, das Rosenberg verabscheute und das ihn in die Emigration getrieben hatte, in der Schweiz. In Russland hatte der Krieg mittlerweile zu Protesten und Unruhen geführt, die in der Februarrevolution gipfelten. Der Zar musste abdanken. Die Unruhen in Russland kamen dem Kaiserreich entgegen, nicht von ungefähr arbeitete man dort doch schon seit 1915 auf ein solches Ergebnis hin. Die Überlegungen im deutschen Außenministerium, an denen auch Arthur Zimmermann (1864 - 1940) unter Staatssekretär Gottlieb von Jagow beteiligt war, liefen darauf hinaus, dass das Schüren von Unzufriedenheit unter der russischen Arbeiterschaft die Kriegsanstrengungen des Zaren torpedieren und diesen solcherart Verhandlungen zugänglich machen würde.
Wir sehen hier also die Blaupause einer Strategie, die seither nicht nur von westlichen Großmächten in immer neuen Varianten angewandt wurden. Mit ähnlichen Ergebnissen, fast schon könnte man von einem “Zimmermann-Effekt” sprechen. Nun gut, ich übertreibe. Das Prinzip, Zwietracht unter den Feinden zu säen, ist wahrscheinlich schon uralt, und Zimmermann war sicher nicht der erste, der auf die Idee kam. Allerdings ist es eine Sache, ob die in solchen Dingen seit hundert Jahren oder mehr erfahrenen Engländer so etwas machen, oder ob die in der großen Diplomatie etwas unbeholfen wirkenden Deutschen sich in diesem Spiel versuchen. Die Geschichte mit dem Zauberlehrling kommt in den Sinn …
Zimmermann gelangte in einem anderen Zusammenhang im 1. Weltkrieg aufgrund des nach ihm benannten Telegrammes zu zweifelhaftem Ruhm. Im sogenannten “Zimmermann-Telegramm” vom Januar 1917 schlug Zimmermann Mexiko vor, im Falle eines Kriegseintritts der Vereinigten Staaten diese von Süden her anzugreifen. Mexiko wurde deutsche Unterstützung zur Rückgewinnung der im 19. Jahrhundert an die USA verloren gegangenen Territorien in Aussicht gestellt. Unglücklicherweise, oder weil Zimmermann einfach zu blauäugig war, gelang es den Briten, das Telegramm abzufangen und zu entschlüsseln, was natürlich in Form von anti-deutscher Propaganda ausgenutzt wurde und zu großer Empörung der amerikanischen Öffentlichkeit führte.
Die Amerikaner, die dank dieser Geschichte wie die Junior-Partner in Sachen Fremdaufklärung aussahen, gründeten 1918 einen Vorläufer der NSA, genannt “Black Chamber”, der erste Dechiffrierdienst der USA. Nicht jedoch ohne Mithilfe der Briten.
Rudolf Sebottendorff und die Thule-Gesellschaft
Sehen wir nun die Hintergrundgeschichte von Adam Alfred Rudolf Glauer (1875 - 1945) an, der später den Namen von Sebottendorff annahm. Ihm wird eine wichtige Rolle bei der Gründung der Thule-Gesellschaft und somit des Kampfbundes zugeschrieben.
Der in Hoyerswerda geborene Sebottendorff schlug sich als Globetrotter durch, und lebte längere Zeit in der Türkei, wo er mit verschiedenen Spielarten des Okkultismus in Kontakt kam, sich einer Freimaurerloge anschloss und die türkische Staatsbürgerschaft annahm. Glauer ließ sich sodann von einem Gönner adoptieren und trug fortan den Namen von Sebottendorff. 1916 landete S. in Bad Aibling bei München, wo er auf eine Anzeige des antisemitischen Germanenordens aufmerksam wurde. Eines der Ziele des Ordens war eine Art Gegenverschwörung gegen die angenommene jüdische Verschwörung in Gang zu setzen. Laut Sebottendorff in Bevor Hitler kam übernahm der (Germanen-) Orden Koordinationsaufgaben im völkischen Lager.
Sebottendorff wurde Vertreter und Anlaufstelle des Germanenordens in Bayern, begann recht erfolgreich Mitglieder anzuwerben, und mietete im August 1918 Räume im noblen Hotel “Vier Jahreszeiten” an, in denen bis zu 300 Personen Platz hatten, womit nun auch eine größere Auffälligkeit verbunden war. Man beachte: Zu diesem Zeitpunkt herrschte offiziell noch Krieg (aber auch Chaos auf den Straßen), von einer deutschen Kriegsschuld war nicht wirklich die Rede.
Am 1. November soll der Orden, der aus Gründen der Tarnung zur “Thule-Gesellschaft” umbenannt worden war und sich nach außen hin die Germanenforschung zum Ziel setzte, laut Sebottendorff in ganz Bayern 1500 Mitglieder gehabt haben, davon 250 in München. Aber, so Sebottendorff: ”Die Revolution brachte gewaltige Einbuße, die Mitglieder in Bayern gingen fast ganz verloren.”
Nach dem Eisner-Putsch wurde, hier sollte man sauber differenzieren, nicht die Thule-Gesellschaft selbst sondern ein aus ihr hervorgegangener Kampfbund Träger des Kampfes gegen das neue Regime, während sich in den Räumen der Thule-Gesellschaft diverse völkische und nationale Gruppen trafen, die während der Revolution ihre Räumlichkeiten verloren hatten. Kurz gesagt, die Thule Gesellschaft wurde zwar zu einer Dachorganisation für alldeutsche, vaterländische und ähnliche Vereine, die Ansicht, die Thule-Gesellschaft oder Sebottendorff hätten die Fäden innerhalb Hitlers NSDAP gezogen, ist dann aber nicht zu halten. Dass der Thule-Gesellschaft beim Kampf gegen die Räterepubliken in Bayern große Bedeutung zukam, wird hingegen nicht bestritten. Heimgekehrte Frontsoldaten und Matrosen bildeten den Grundstock der paramilitärischen, auch für Sabotageaktionen zuständigen Einheiten, andere Zuarbeiter im Umkreis der Thule beschafften Nachrichten und Dokumente, während Publizisten, Verleger und Ideologen den propagandistischen Teil übernahmen.
“Als Operationszentrale und logistische Basis der Kampfbund-Aktivitäten wurde zusätzlich zu den Räumen im Hotel “Vier Jahreszeiten” ein Büro in der Marstallstraße angemietet. Was der Germanenorden jahrelang sein wollte, eine konspirative Avantgarde gegen die “undeutschen” Kräfte, dem näherten sich jetzt die Thule-Gesellschaft und ihr Kampfbund an”, fasst Detlev Rose zusammen [S. 40].
Einer der aktivsten und vorwärtstreibenden Streiter des Kreises, nicht jedoch Mitglied der Thule-Gesellschaft, war laut Sebottendorff der Verlagsbuchhändler Julius Friedrich Lehmann, der äußerst aktiv bei der Beschaffung von Waffen war, die sowohl in den Verlagsräumen als auch in den Logen- und Büroräumen der Thule-Gesellschaft deponiert wurden.
Dietrich Eckart
Wenden wir uns nun Dietrich Eckart (1868 - 1923) zu. In der Oberpfalz geboren und laut Rose katholisch erzogen (ergänzend: Eckart sei Sohn eines evangelischen Notars gewesen, alternativ: “Eckart, der katholische Sohn eines evangelischen Notars”,1) begann Eckart 1888 ein Medizinstudium, brach aber drei Jahre später ab und verbrachte kurze Zeit wegen Rauschgiftproblemen (wahrscheinlich Morphiumsucht) in einer Nervenheilanstalt. In den folgenden Jahren versuchte er sich als Schriftsteller. Als der Vater 1895 verstarb, erbte Eckart ein beträchtliches Vermögen und er siedelte noch vor der Jahrhundertwende nach Berlin über, dessen Künstlerszene es ihm angetan hatte. Das Erbe des Vaters hielt jedoch nicht besonders lange vor, sodass Eckart sich nur dank gelegentlicher journalistischer Arbeiten über Wasser halten konnte. Als Dramatiker blieb Eckart zunächst erfolglos, bis er 1911 eine Nachdichtung von Ibsens Peer Gynt verfasste, die 1914 an den Königlichen Schauspielen uraufgeführt wurde. Auf einen Schlag wurde Eckart berühmt und finanziell unabhängig. Eckarts Übersetzung wurde zur Standardversion auf deutschen Bühnen. Bis 1918 erlebte das Stück 183 Vorführungen.
Wann genau Eckart mit völkischen Kreisen in Kontakt kam, ließ sich bislang nicht eruieren, jedenfalls sei Eckart durch die Geschehnisse der Jahre 1917 und 1918 stark politisiert 2 worden. Seine Abneigung gegen Juden war offenbar während seiner beruflich erfolglosen Zeit in Berlin durch Erfahrungen mit jüdischen Journalisten und Theaterkritikern forciert worden, die er für seine Erfolglosigkeit als Dramatiker verantwortlich machte.3
Im Herbst 1915 zog Eckart, frisch verheiratet mit Rose Marx, nach München, wo er im Mai 1916 den Hoheneichen-Verlag erwarb, Grundlage seiner publizistischen Aktivitäten und ökonomisches Standbein. Detlev Rose schrieb:
“Der entscheidende Wendepunkt zu einer an die breite Masse gerichteten Propaganda vollzog sich im letzten Kriegsjahr. Erstmals griff Eckart nicht nur abstrakt den “jüdischen Geist” oder den “Großen Krummsäbel” publizistisch an, sondern einzelne Juden wie Trotzki, Eisner und Rathenau sowie jüdische Organisationen.” [Rose, S. 123]
Als Reaktion auf die November-Revolution gründete Eckart eine Zeitschrift mit dem einprägsamen Namen “Auf gut Deutsch”, die erstmals am 7. Dezember 1918 erschien. Den wichtigsten Grund für sein politisches Engagement beschreibt Eckart folgendermaßen:
Bei Ausbruch der Revolution empfand ich das Bedürfnis, politisch hervorzutreten, umsomehr, als ich meine angeborene Abneigung gegen das Judentum durch den jüdischen Ministerpräsidenten Eisner verhundertfacht fühlte.
Die Zeitschrift wurde an rund 25.000 Adressaten in ganz Deutschland verschickt, Hauptthema war und blieb das Judenproblem (Rose), welches als zentrale Kraft hinter Kapitalismus und Bolschewismus angesehen wurde. Unterstützt wurde die Zeitung durch den Herausgeber der Münchner Zeitung Hans Buchner mit 10 000 Mark, und auch Wolfgang Kapp (nach dem später ein Putsch benannt werden würde) steuerte 1000 Mark bei. Die Annahme liegt nahe, dass der Kontakt zwischen Eckart und Kapp noch aus der Berliner Zeit stammte. Weiterhin leistete die Reichswehr durch Abnahme von Abonnements Unterstützung.
Alfred Rosenberg
Just im Dezember 1918, vielleicht auch Anfang 1919, traf der 1893 im baltischen Reval geborene Alfred Rosenberg in München ein, wo er zunächst auf die Unterstützung durch eine Flüchtlingshilfeorganisation angewiesen war. Rosenberg hatte sein Architekturstudium 1918 in Moskau mit einem Diplom abgeschlossen und kehrte anschließend mit seiner Frau nach Reval zurück. Unzufrieden mit dem bolschewistischen Regime, beschloss er nach Deutschland zu emigrieren und landete schließlich in Bayern, das er von einem Urlaub her noch in guter Erinnerung hatte.
Rosenberg verbrachte seine Tage in den Münchner Kunstgalerien und öffentlichen Büchereien, wo er sich mit religiösen und philosophischen Themen befasste sowie mit jüdischer Geschichte, bis er eines Tages der ebenfalls emigrierten, schönen Tänzerin Edith von Schrenck begegnete, die er über seine Frau, geb. Hilda Leesmann, aus Reval oder St. Petersburg kannte. Rosenberg erzählte Edith v. Schrenck, dass er gerne etwas über seine Erfahrungen mit der russischen Revolution schreiben und veröffentlichen würde, woraufhin sie ihn auf Dietrich Eckart aufmerksam machte, der seit kurzem die Zeitschrift Auf gut Deutsch herausgab.
Und so suchte Rosenberg kurz darauf Eckart auf und stellte sich, nach eigenen Angaben, mit den folgenden Worten vor:
“Können Sie einen Kämpfer gegen Jerusalem gebrauchen?” “Gewiss!”, soll Eckart lachend erwidert haben, woraufhin Rosenberg ihm sein Manuskript mit dem Titel Die russisch-jüdische Revolution übergab. Eckart stellte Rosenberg ein und ließ ihm auch sonst beträchtliche Hilfe zukommen. Nicht nur gab er ihm die Möglichkeit “der Arbeit, ja des Lebens", darüber hinaus machte Eckart ihn auch mit seinen Freunden bekannt, und nahm ihn, den Fremdling, in freundschaftlicher Weise auf. Rosenberg sei wesentlich an der Verbreitung der Protokolle von Zion beteiligt gewesen.
Da hatten sich zwei gefunden, keine Frage. Rosenberg wurde, wenigstens über einen längeren Zeitraum hinweg, Chef-Ideologe der NSDAP.
Kurz erwähnt werden soll noch Gottfried Feder, der mit seiner Theorie von der Brechung der Zinsknechtschaft die ökonomische Ausrichtung von Auf gut deutsch bestimmte (Rose, S. 123), denn Feder hielt im Sommer 1919 auch Vorträge in Reichswehr-Kursen, die von Hitler besucht wurden. Wir kommen darauf zurück. Interessant ist, dass mit Silvio Gesell (1862 - 1930) ein anderer Kritiker des Zinssystems in der provisorischen bayerischen November-Regierung kurzzeitig ein Amt ausübte.
Der Plan zur Entführung von Eisner scheitert
Wann genau Sebottendorff von Leutnant Sedlmaier, Mitglied des Kampfbundes, über eine bevorstehende Veranstaltung Eisners, die ausgerechnet in Sebottendorffs Wohnort Bad Aibling am 4. Dezember 1918 im Kurhaus stattfinden sollte, unterrichtet wurde, ist unklar. Aber auch so ist angesichts der eben erst erfolgten Gründung des Kampfbundes unstrittig, dass der Plan zur Entführung Eisners sehr kurzfristig und sozusagen spontan entstanden sein musste. Der Plan war, Eisner zu entführen und an seiner Stelle Erhard Auer (1875 - 1945) einzusetzen. Sebottendorff hoffte auf eine zustimmende Reaktion der Sozialdemokraten und er rechnete mit den Bauern, die er im Vorfeld der Versammlung mobilisieren ließ. Sebottendorff zufolge wurde ein Aufruf (Bürger, Bauern, Frontsoldaten) gedruckt, der am Ende von Eisners Rede verteilt werden sollte.
An der Versammlung sollten Innenminister Auer und Justizminister und Vorsitzender der bayerischen SPD Johannes Timm (1866 - 1945) teilnehmen, allerdings erschien nicht Auer, sondern der Bauernrat Gandorfer. Der Plan, dessen praktische Durchführung Leutnant Seldmaier und fünfzehn seiner Leute oblag, scheiterte auch deshalb, weil eine große Zahl kommunistischer Arbeiter anwesend war, mit deren Präsenz offenbar nicht gerechnet worden war. Nach eigenem Eingeständnis hatte Sebottendorff zudem Eisners rhetorisches Talent unterschätzt, und als Sedlmaier dennoch zu provozieren begann, brach ein Tumult aus, dem Sedlmaier nur durch Eingreifen des örtlichen Schmieds entkommen konnte.
Republikanische Schutztruppe und Bürgerwehren
Ebenfalls im Dezember 1918 gründete Alfred Seyffertitz die “Republikanische Schutztruppe” aus gedienten Frontsoldaten, die am 13. April 1919 den sogenannten “Palmsonntagsputsch” durchführen würde, s. Teil 1.
Laut wikipedia (23.03.2024) gründete Seyffertitz im Dezember 1918 mit Finanzierung durch die Antibolschewistische Liga die „Republikanische Schutztruppe“ aus gedienten Frontsoldaten. Allerdings erscheint diese Aussage zumindest zweifelhaft, da aus einem anderen wikipedia-Artikel geschlossen werden könnte, dass die Gelder an die von Eduard Stadtler ins Leben gerufene Antibolschewistische Liga in zur Unterstützung von bayerischen Gruppierungen ausreichender Menge erst frühestens nach dem 10. Januar 1919 geflossen sind.
Im Zuge der Recherchen tauchten dann aber in Person von Karl Reichsgraf oder Freiherr von Bothmer (1881 - 1947) persönliche Querverbindungen zwischen Antibolschewistischer Liga und Dietrich Eckart auf, die erklären könnten, wie es zur Wikipedia-Behauptung kam, die Antibolschewistische Liga habe die Gründung der Republikanischen Schutztruppe finanziell unterstützt.
Eduard Stadtler (1866 - 1945), ehemals Sekretär des katholischen Windthorstbundes (eine Jugendorganisation der Zentrumspartei) sowie Mitglied der Zentrumspartei, geriet 1916 in russische Kriegsgefangenschaft, lernte während dieser Zeit russisch und meldete sich im Mai 1918 in der deutschen Botschaft in Moskau.
Hier schloss er sich der Gruppe um Karl von Bothmer und Wilhelm Henning an, die eine Intervention in den russischen Bürgerkrieg zugunsten der Weißen Armee befürwortete. [wikipedia, 23.03.2024]
Was für sich genommen schon eine interessante Information ist, denn hier treten erste Querverbindungen zutage zwischen Weissrussen, von denen etliche während der russischen Revolution oder danach nach Berlin und Bayern flüchteten, und Personen aus dem Umfeld der Thule-Gesellschaft bzw. der jungen nationalsozialistischen Partei zutage.
Der Reichsgraf von Bothmer soll Dietrich Eckart an seine politische Tätigkeit herangeführt haben. Bothmer hatte sich ganz der patriotischen Propaganda verschrieben, doch verschiedene Projekte scheiterten 1916/17 “hauptsächlich an der Zensur”, so Rose [S.122]. Seinem Einfluss sei es zu verdanken gewesen, “daß bei Eckart der Gedanke reifte, seine Botschaft - die aus der privaten in die politische Sphäre erhobenen Theorien - nun nicht mehr über den Umweg des Theaters, sondern direkt an die Öffentlichkeit zu bringen. [Rose, S. 122 f.]
Außerdem arbeitete Bothmer von Januar bis Mai 1919 an der von Eckart gegründeten Zeitschrift Auf gut Deutsch mit. Seine Hauptthemen waren die Beziehungen zwischen Nord- und Süddeutschland sowie der Antagonismus von nationalem und internationalem Sozialismus, die Wege trennten sich, als Bothmer offen für separatistische Bestrebungen eintrat.
In Moskau lernte Stadtler u.a. auch Karl Helfferich (1872 - 1924) kennen, deutscher Wirtschaftswissenschaftler, Bankier und sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik einflussreicher Politiker, zuletzt führender Politiker in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), der sich durch extreme antirepublikanische und antisemitische Propaganda auszeichnete. Zum Beispiel weigerte er sich 1920/1921 während eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu seiner Politik während des Krieges Fragen des USPD-Abgeordneten Oskar Cohn zu beantworten und dies mit dessen Judentum begründete. Seine Polemiken gegen Walther Rathenau, Matthias Erzberger und Joseph Wirth vergifteten das politische Klima in der Weimarer Republik, während er [Helfferich] gleichzeitig als früher Förderer des “nationalen Sozialisten“ Eduard Stadtler mindestens indirekt an der Mordserie an Sozialisten und Kommunisten in der Weimarer Republik mitverantwortlich war.
Eduard Stadtler, der Gründer und Leiter der Antibolschewistischen Liga, veranlasste nach eigener Aussage beispielsweise am 12. Januar 1919 die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und brach Tage zuvor „Noskes Zaudern“, Militär in Berlin einzusetzen. [wikipedia, 23.03.2024]
Karl Helfferichs Bruder, Emil (1878 - 1972), mischte zusammen mit Prescott Bush und Averill Harriman in der Hamburg-Amerika-Linie mit, und gehörte zu den 12 ersten Auserwählten des Keppler-Kreises, der später vom Himmler-Kreis abgelöst wurde.
Die Schutztruppe unterstützte die Exil-Regierung Hoffmanns, und scheiterte in einem letzten Gefecht in und um den Münchner Bahnhof. Hilfe war von Hoffmann in Bamberg versprochen worden, blieb aber aus. Die Regimenter in den Kasernen Münchens kamen jedenfalls nicht zur Unterstützung. Ob Hitler während dieser Zeit zu der Truppe gehörte, die den Bahnhof bewachte, und somit anwesend war, als die Schutztruppe niedergeschlagen wurde, wurde zwar spekuliert, ist aber wahrscheinlich nicht beweisbar. Laut Anton Joachimsthaler [Korrektur einer Biographie: Adolf Hitler 1908 - 1920], dessen Arbeiten zu Hitler allgemein als Standardwerke eingeschätzt werden, habe Hitler jedoch einige Wochen vor dem Palmsonntagsputsch Dienst bei der Bahnhofswache im Münchner Hauptbahnhof getan, nämlich vom 20. Februar bis 8. März 1919.
Links
Aus dem Jahr 2016 stammt ein Artikel auf equapio.com, der irgendwie immer noch aktuell wirkt: Europa auf dem Marsch in den Faschismus? Damals wurde auf der Populismus-Schiene herumgeritten …
Ein anderer Aspekt dieser Zeit wird in “Warum Milliardäre LGBT lieben und was Transgender mit einer neuen Religion zu hat” beleuchtet. Die Wurzeln der Transgender-Bewegung sind ausgerechnet im Berlin der 20er-Jahre zu finden.
https://de.sputniknews.com/panorama/20170218314576674-emigration-russland-deutschland/
https://www.marxist.com/luxemburg-liebknecht-and-the-german-revolution.htm
Literatur
Wer hat Hitler gezwungen Stalin zu überfallen?, Nikolay Straikov, N. Starikov 2008
Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde, Thomas Weber, Propyläen 2016
Die Thule Gesellschaft, Detlev Rose, Grabert 2008
Einige Fotografien habe ich folgendem Buch entnommen: 1918 - Die Tore zur Hölle, Jung & Georg, Kopp Verlag 2019
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https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/334411#cite_note-0
https://edoc.ub.uni-muenchen.de/23029/1/Besic_Marc.pdf S.105 f.
Detlev Rose, Die Thule-Gesellschaft, Grabert Verlag, 4. Auflage 2017, S. 122